Nienstedt. In den Gemeindeakten von Nienstedt und Förste sind die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren detailliert aufgezeichnet.

Der Zweite Weltkrieg endete vor 75 Jahren, mehr als 60 Millionen Menschen waren auf den Schlachtfeldern, in Konzentrationslagern oder durch Hunger und Kälte ums Leben gekommen. Über das Kriegsende in Osterode, Bombenangriffe im Harz, Flucht und Vertreibung sowie unter anderem über die Befreiung der KZ-Außenlager berichteten wir bereits. Über die letzten Tage des Krieges in Nienstedt hat unser freier Mitarbeiter Joachim Schwerthelm recherchiert.

Kaum eine Ortschaft, wenn sie auch noch so klein war, blieb von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs verschont – auch nicht Nienstedt. In der Gemeindeakte ist das Geschehen der letzten Kriegstage in dem Ort aufgezeichnet worden. Ergänzende Informationen wurden der Gemeindeakte Förstes entnommen. So heißt es eingangs: „Wenn die Völker draußen aufeinander schlagen, so sieht das etwas anders aus, als wenn man den Krieg im eigenen Dorf, gewissermaßen am eigenen Leibe erlebt. Viele Jahre ist unser Dorf vom Krieg verschont geblieben. Nach so langer Zeit ist es schwer, sich den Krieg im eigenen Dorf vorzustellen. Auch wenn die tödliche Wirkung bereits einige Jahre zuvor leidvoll zu spüren war. Das beweisen die Namen auf dem Kriegerdenkmal zur Erinnerung der Toten des Ersten Weltkriegs.“

Schwerthelm führt die Aufzeichnungen aus den Gemeindeakten chronologisch auf:

Sonnabend, 31.03.45: Die Front kommt näher. Um Kassel wird gekämpft. Das Ruhrgebiet wird eingekesselt, Paderborn wird besetzt.

Sonntag/Ostern, 01.04.45: Wie vor, die Lage wird ernst.

Montag/Ostern, 02.04.45: Morgens große Gefangenendurchgänge in Richtung Seesen. Flüchtlinge aus der Gegend um Kassel ziehen durch, lagern bei der Sösebrücke. Viele Flüchtlinge sind auf Fahrrädern unterwegs.

Dienstag, 03.04.45: Wie vor. Gerüchte gehen um: Göttingen sei als freie Stadt erklärt und soll kampflos dem Feinde überlassen werden. Northeim und Osterode sollen verteidigt werden. Amerikaner sollen in Duderstadt stehen. In Thüringen wird gekämpft.

Mittwoch, 04.04.45: Lage wird ernster.

Donnerstag, 05.04.45: Wie vor. Nachts fliegen Einzelflugzeuge der Amerikaner und schießen auf jeden Lichtschein.

Freitag, 06.04.45: Wie vor. Nachmittags erscheinen unsere Truppen aus Richtung Lüttjenrode. Sie waren schwach an Zahl mit einigen Panzern und Werfergeschützen. Außer anderen Häusern war auch im Schuppen des Hauses Nr. 38 ein Werfer mit zwei Granaten untergestellt. Die drei im Haus einquartierten Soldaten waren ein Wiener, ein Wuppertaler und ein Oberschlesier.

Sonnabend, 07.04.45: Soldaten sind noch da [...]. Soldaten haben keine Hoffnung auf Sieg. „Womit sollen wir uns verteidigen. Uns fehlt alles. Die Kampftruppe ist in Auflösung“.

Sonntag, 08.04.45: Kirchgang. Es predigt ein Soldatenpastor. Soldaten warten auf Befehl zum Rückzug. Nachmittags Tiefflieger über Willershausen und anderen Orten. Abends Anordnung: Volkssturm sollen Panzersperren an der neuen Chaussee bauen. Montag, am Morgen um 7.30 Uhr ist antreten mit Hacke und Schaufel befohlen. In der Nacht Rückzug der Soldaten. Nienstedt ist jetzt militärfrei.

Montag, 09.04.45: Geschütz- und Gewehrfeuer in der Nähe aus Richtung Marke und Gandersheim. Flugzeuge der Amerikaner kreisen dauernd über uns. Um 7.30 Uhr Panzersperrenbau am Kleinbahnüberweg [...]. Endlose Autoreihen mit Gepäck aus Richtung Dorste in Richtung Osterode. Unsere Soldaten kehrten nachmittags noch einmal zurück und fuhren mit Panzern um 17 Uhr ab über Osterode nach Kamschlacken-Riefensbeek. Abends kam SS und bezog Quartier in Nienstedt bis 5 Uhr morgens. Die SS ist überspannt und den Einwohnern gegenüber feindlich gesinnt.

Dienstag, 10.04.45: [...] abends ab 20 Uhr bis in die Nacht Gewehrfeuer aus Richtung Marke [...] in der Nacht Geschützfeuer zwischen deutschen (Soldaten) aus Osterode und Amerikanern aus Marke.

Mittwoch, 11.04.45: Beim Hellwerden: Keller für persönliche Sicherheit der Familie und den Einwohnern des Hauses herrichten. Zulegen der Kellerfenster mit Rundholz. Die Gemeindeverwaltung gibt bekannt, dass kein Einwohner den Ort verlassen darf. Um 8 Uhr begann Gewehr- und Geschützfeuer zwischen deutschen Soldaten, die sich im Glockenpfuhl um mehrere Panzer festgesetzt hatten und den vordringenden Amerikanern aus Richtung Marke und Goldbach-Marke. Nach Rückzug der Deutschen nach Förste, besetzten die Amerikaner Nienstedt und schossen aus den Häusern auf die zurückziehenden Deutschen. In Förste gingen zwölf Häuser mit Stallungen in Flammen auf. In Nienstedt wurden zwei Häuser mit Stallungen (Nr. 2/ Friedrich Hente und Nr. 41/Adolf Bohnhorst, später Bäckerei Ahrens) und drei Ställe zerstört. Um etwa 15 Uhr vorübergehend Ruhe. Um 17 Uhr starker Artilleriebeschuss der Deutschen auf Nienstedt und seine Eingangsstraßen. Um 17.30 Uhr endgültig Ruhe. Während des Beschusses saßen die Amerikaner gemeinsam mit uns im Keller [...]. Sie zogen am späten Nachmittag ab und wurden durch andere Nachrichtenwagen ersetzt. Ihre Worte ,nix geklaut!’ bewahrheiteten sich. Auf ihren Befehl blieben wir im Keller bis 6 Uhr morgens.

Aus der Förster Gemeindeakte

In der Förster Gemeindeakte wurde dieser Tag wie folgt beschrieben: „Auf der Straße die Panzer, zu beiden Seiten flankiert von Panzerdeckung. Da sich die wenigen SS-Männer, an der Söse liegend, nicht geschlagen gaben, schossen die amerikanischen Truppen in den Ort hinein. Schwere Stunden! Die Einwohner, zum Teil in den Kellern, zum Teil im Felde Schutz suchend. Im Ort die Einschläge der Granaten! Die Liste der Gebäude, die dabei zerstört sind, ist nicht unerheblich. So gingen sechs Wohnhäuser in Flammen auf und brannten bis auf die Grundmauern nieder [...]. Außerdem brannten das alte Schützenzelt auf dem Schützenplatz [...] und der Dreschschuppen nieder. Einer (Heinrich Brandt), der besorgt um seinen Hof, nach dem Rechten sehend, den schützenden Keller verließ, wurde getötet.“

Weiter heißt es dort: „Am schwersten tobte der Kampf in der Fischerbucht, wo auch die meisten Zerstörungen angerichtet wurden. Einschläge waren aber verstreut über das ganze Dorf zu verzeichnen und es ist wohl wirklich ein Wunder zu nennen, dass nicht mehr Verluste an Menschenleben eingetreten sind.“

„Der Kampf dauerte in den Nachmittagsstunden etwa 4 Uhr und 45 Minuten. Um den immer noch zähen Widerstand der SS zu brechen, forderten die Amerikaner schließlich Bombenflieger an, und es ist nur dem Umstand zu verdanken, dass der Kampf schließlich mit dem Abrücken der SS in Richtung Osterode (Stadtfeld) ein Ende fand. So wurde Förste wahrscheinlich vor noch größerer Zerstörung bewahrt.“

Schwerthelm zitiert weiter: „Die inzwischen eingerückten Amerikaner fürchteten mit den Bomben der eigenen Geschwader unliebsame Bekanntschaft zu machen und gaben in größter Hast Funksprüche ab und legten Signale aus, die dann schließlich auch die Geschwader zum Abdrehen veranlassten. Gerade noch rechtzeitig! Ihre Bombenlast haben die Flugzeuge dann in der nahen Umgebung, zum Beispiel im Gemeindeholz, am Schulberge, usw. abgeladen [...]. Auch die ehrwürdige Ruine auf dem Lichtenstein ist nicht verschont geblieben [...] auch sie hat einen Treffer erhalten und naturgemäß gelitten [...].“

Donnerstag, 12.04.45: Amerikaner zogen früh morgens weiter. Kampf tobte in Osterode. Ganz ohne Schaden war es nicht abgegangen; durchschossene Dachziegel, niedergerissene Garteneinfriedigungen, anderorts wurden Konserven, Gläser und Büchsen geöffnet und Schränke/Behälter durchwühlt [...].

Freitag, 13.04.45: Ohne amerikanische Besetzung. Vereinzelt Gewehr-, zeitweise Artilleriefeuer aus Richtung Harz. Kein Licht, keine Nachrichten. (Amerikanische) Panzer und Mannschaften durchfuhren Nienstedt. Männliche Bevölkerung soll Tote im Wald suchen. Suche wegen Lebensgefahr nicht ausgeführt. Bei Ansammlungen bestand die Gefahr beschossen zu werden.

Sonnabend, 14.04.45: Ohne Besetzung, vereinzelt Gewehrfeuer, entfernter Kanonendonner. Abends ruhig. Weder Licht noch Nachrichten. Durchfahrt von amerikanischer Truppen auf Mannschaftswagen. Auch Durchfahrt von Panzern. Im (Westerhöfer) Wald immer noch Gefahr, weil da selbst noch Schüsse fallen.

Sonntag, 15.04.45: Kirchgang; Thema: „Irret Euch nicht. Gott lässt sich nicht spotten. Wer Hass säet, wird Hass ernten.“ Vereinzelt Gewehrschüsse, am Tage entferntes Artilleriefeuer, abends starkes Artilleriefeuer. Kein Licht, keine Nachrichten. Erste angeschlagene amerikanische Bekanntmachung: Alle nationalsozialistischen Einrichtungen werden aufgehoben. Radiogeräte müssen abgeliefert werden. Kampfspuren überall. Ein deutscher Panzer liegt in der Söse, ein anderer (Panzerkraftwagen IV) in der Allee beim Kriegerdenkmal. Telegraphen-, Telephon- und Lichtleitungen hängen zerfetzt an gebrochenen Stangen. Zäune sind umgerissen, Brückengeländer abgebrochen, Bäume entwurzelt und geknickt. Granathülsen, Panzerfäuste, Patronen und Geschosse liegen herum [...].

Montag, 16.04.45: Ohne Besetzung. Kein Licht, keine Nachrichten, vereinzelt Gewehrfeuer, abends ruhig. Gerüchte besagen, die Front sei bei Stendal, Magdeburg, Halle, Leipzig, Chemnitz.

Dienstag, 17.04.45: Bombenflugzeuge der Amerikaner überfliegen den Harz sehr niedrig. Nachmittag 17 Uhr wieder Licht, Radio und Nachrichten. Im Kampf bei Nienstedt und Förste fielen nur deutsche Soldaten [...]. Noch Wochen später fanden sich die Leichname Gefallener im nahen Walde. Sie wurden auf dem Friedhof in Nienstedt beigesetzt.

Während für Nienstedt und Förste der Krieg vorbei war, dauerte es bis zur bedingungslosen Kapitulation in Berlin Karlshorst noch drei lange Wochen.

Der Artikel wurde durch Material von Helga Häusler ergänzt. Ihr Buch zur Geschichte Förstes mit dem Titel „Ein Blick in den Brunnen der Vergangenheit“ ist bei der Autorin oder in der Buchhandlung Thalia in Osterode erhältlich.