Braunschweig. 1774 erschien Goethes Bestseller, ein literarischer Welterfolg. Warum fesselt er bis heute? Die TU Braunschweig versucht es zu erklären.

„Nehmen Sie sich in acht, dass Sie sich nicht verlieben!“ Raunt eine Begleiterin Werthers, als sie zu einer Lustbarkeit auf dem Lande kutschen. Ich doch nicht, gibt der angehende Jurist zurück. Sinngemäß. Dann holen sie Lotte ab. Eine etwa 17-jährige Jugendliche „von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust“ trägt und sich an der verstorbenen Mutter statt rührend um ihre jüngeren Geschwister kümmert. Auf der Kutschfahrt zum Ball kommen sie ins Gespräch über Bücher. In diesem Moment verfällt Werther Lotte unsterblich. Um nicht genauer zu sagen: tödlich.

So beginnt der Briefroman – Werthers tragische Geschichte erfahren wir größtenteils aus kurzen Briefen an seinen Freund Wilhelm –, der zu einem der größten Erfolge deutscher Literatur wurde, auch international. Praktisch sofort. Die Lesenden wurden mitgerissen vom Sog der Schicksalserzählung und der Unmittelbarkeit, mit der die Hauptfigur ihr Innerstes bloßlegt. In einer poetischen, aber frei fließenden, ungekünstelten Sprache.

Goethe-Experte Stefan Matuschek: „Werther“ ist mehr als eine große Liebesgeschichte

Bis dahin war das Publikum eher hochtrabende Versdichtungen gewöhnt. Ein relativ kleines Publikum noch, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts aber nicht zuletzt wegen des „Werthers“ rasant anwuchs. Auch wenn konservative Geister gegen die skandalöse Brief-Erzählung zu Felde zogen, der Einschübe eines angeblichen Herausgebers den Anschein von Authentizität verliehen („Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt“). Die erste Ausgabe im Herbst 1774 erschien anonym. Die Autorschaft des damals noch unbekannten 25-jährigen Juristen Johann Wolfgang Goethe, der in Frankfurt eine kleine Kanzlei betrieb, wurde allerdings bald publik.

„Der ,Werther‘“, sagt Professor Stefan Matuschek, Präsident der Goethe-Gesellschaft Weimar, „war so unvergleichlich dicht, verknappt und intensiv geschrieben. Er ist nicht nur eine große Liebesgeschichte, sondern die kompakte Darstellung eines Leidens an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Da wird sozusagen keine Suppe gereicht, sondern direkt der Brühwürfel: voller Geschmack, hochkonzentriert.“

TU Braunschweig: Am 9. April startet die große „Werther“-Ringvorlesung

Matuschek ist einer der Referenten der öffentlichen Vorlesungsreihe „250 Jahre Die Leiden des jungen Werthers“, die die TU Braunschweig anlässlich des Jubiläums am Dienstag, 9. April, startet. Der Jenaer Literaturwissenschaftler spricht am 23. April über Goethes Jahrhundertroman als „Brandbeschleuniger“. Damit spielt der 61-jährige Germanist auf den „explosionsartigen“ Anstieg von Romanveröffentlichungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts an. „Bis dahin wurden vergleichsweise wenige Bücher immer wieder gelesen: vor allem Katechismen, religiöse Erbauungs- und Fachliteratur für bestimmte Berufsgruppen. Prosaromane galten als minderwertig. Jetzt wurden sie von immer mehr Lesern und vor allem Leserinnen als Spiegel der eigenen Wirklichkeit geschätzt.“

Werther-Vorlesungsreihe

Jeweils dienstags, 18.30 Uhr, spürt die Ringvorlesung „250 Jahre Werther“ im TU-Hörsal PK 11.1, Pockelstraße 11, Goethes Jahrhundertroman und seiner Wirkung nach.

Zum Auftakt am 9. April referiert der Autor und „Spiegel“-Redakteur Dr. Johannes Saltzwedel über „Werthers Welt: Das Jahr 1774“.

Am 16. April spricht Prof. Gerd Biegel über „Werther und die Braunschweigische Geschichte“, am 23. April Prof. Stefan Matuschek über „Werther – ein Roman als Brandbeschleuniger“.

Weitere Termine unter www.tu-braunschweig.de/germanistik/ringvorlesung

Der Begriff Romantik leite sich vom Gattungsbegriff Roman ab, führt Matuschek in seiner Epochendarstellung „Der gedichtete Himmel – eine Geschichte der Romantik“ aus. Als religiöse Wahrheiten und Erkenntnisse jenseits des empirisch oder rational Beweisbaren fragwürdig wurden, habe sich die Sinnsuche der Menschen in die Literatur verlagert. „Die ist zwar ,nur‘ ein Produkt der Phantasie. Aber trotzdem können wir darin existenzielle Wahrheiten über unser eigenes Leben finden und sie reflektieren. Literatur kann uns Vorstellungen anbieten, die dann kollektiv wirksam werden.“

Prof. Stefan Matuschek lehrt Neuere deutsche Literatur an der Uni Jena und ist Präsident der Goethe-Gesellschaft Weimar.
Prof. Stefan Matuschek lehrt Neuere deutsche Literatur an der Uni Jena und ist Präsident der Goethe-Gesellschaft Weimar. © Universität Jena | Jens Meyer

Um 1800: Die „Lesesucht“ greift um sich

Die beginnende Leselust, von Konservativen als „Lesesucht“ gebrandmarkt, klingt auch bei Goethe an. „Werther entflammt in dem Augenblick vollends für Lotte, als sie ihm von ihrer Begeisterung für Bücher erzählt“, sagt Matuschek. Konkret erklärt Lotte im Roman: „Der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben.“

Während Lotte sich mit ihren engen, aber sicheren Verhältnissen abfindet und ihre Verlobung mit einem braven Geschäftsmann trotz aller Faszination für Werther nicht in Frage stellt, verzweifelt der junge Jurist an seiner unstillbaren Leidenschaft – aber auch an den starren Grenzen der Ständegesellschaft. Das sei ein Aspekt, der in der Wahrnehmung des Romans heute oft zu kurz komme, betont Matuschek. Nach Wochen vergeblichen Anhimmelns reißt sich Werther vorübergehend von Lotte los und tritt eine Gesandtenstelle bei einem Grafen an – bis dieser ihn trotz Beteuerung seiner Wertschätzung aus einer adligen Runde hinauskomplimentiert: An der Gegenwart des Bürgerlichen wurde Anstoß genommen.

Wie Werther an den Schranken der Ständegesellschaft verzweifelt

„Da werden die Härten der Ständeordnung deutlich. Das aufklärerische Ideal der Freiheit und Gleichheit aller Menschen, das dann auch im Fanal der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zum Ausdruck kommt, bleibt Werther gegenüber ein Lippenbekenntnis. Dazu noch seine unerfüllbare Liebe, und das alles aus seiner Perspektive so temporeich und konzentriert erzählt – das hat zu einer starken Identifikation mit Goethes Held geführt“, sagt Matuschek. Werther nimmt sich schließlich das Leben. Dass Goethes Roman eine Suizidwelle ausgelöst habe, sei zwar nicht nachweisbar, so der Germanist. Belegt sei aber eine „Werthermode“: Junge Leute kopierten den Kleidungsstil des Helden mit blauem Frack und gelber Weste.

Bücher waren am Ausgang des 18. Jahrhunderts noch relativ teuer. Die Auflagen erfolgreicher Romane kamen selten über 10.000 Exemplare hinaus, erläutert Matuschek. Dass sie sich trotzdem rasant verbreiteten, lag an privaten Leihbibliotheken, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Neben Bürgerlichen begannen auch „kleinere Leute“ wie Handwerker und Mägde zu lesen.

An niedersächsischen Schulen ist „Werther“ keine Pflichtlektüre mehr

Goethes „Werther“ gehört heute noch zu den meistgelesenen Klassikern. In der Schule ist er allerdings keine Pflichtlektüre. Abgesehen vom Zentralabitur – da geht es in diesem Jahr vor allem um Georg Büchner – gebe es im Fach Deutsch in Niedersachsen keine verbindlich vorgeschriebenen Werke mehr, erklärt Mareike Wellmeier vom Landesamt für Schule und Bildung in Lüneburg. Für die unteren Jahrgänge des Gymnasiums würden den Lehrkräften lediglich allgemeine Hinweise zur Lektüreauswahl gegeben. In der 11. Klasse seien dann ein Drama der Aufklärung und ein moderner Roman durchzunehmen. „Für die Jahrgänge 12/13 ist der ,Werther‘ im Rahmen des zweiten Wahlpflichtmoduls, ,Sturm und Drang: Rebellion gegen Autoritäten‘ zum Rahmenthema 1 ,Literatur und Sprache um 1800‘ als mögliche Lektüre verzeichnet.“

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