Braunschweig. Karfreitag 1724 wurde Bachs großes Oratorium uraufgeführt. Nun leitet es erstmals Domkantorin Lindemann. Was macht das Werk einzigartig?

Die Resonanz auf die Uraufführung war nicht besonders gut. Dabei wollte Johann Sebastian Bach (1685-1750) mit seiner Johannes-Passion ein Zeichen setzen. Seit seinem Amtsantritt als Thomaskantor im Mai des Vorjahres hatte er wie am Fließband Kantaten für die Gottesdienste geschrieben, praktisch ein Werk pro Woche. Die Passionszeit, in der keine Kantaten aufgeführt wurden, nutzte er für ein großes Oratorium, mit dem er seine besondere Qualität und seine Vision von geistlicher Musik zum Ausdruck bringen wollte. Vor 300 Jahren, am Karfreitag 1724, wurde die Johannes-Passion in der Leipziger Nikolaikirche uraufgeführt. Sie ging mit ihren mächtigen, teils turbulenten Chorpassagen, innigen Arien, die die Leidensgeschichte Jesu gleichsam persönlich reflektieren, und der dramatisch zugespitzten Schilderung von seiner Festnahme, Verhör, Folter und Kreuzigung weit über die bis dahin üblichen Passionsmusiken hinaus.

Für die Leipziger Geistlichkeit und das Publikum – wohl bis zu 2000 Menschen – war das des Guten zu viel: fast schon mehr Oper als Oratorium. Bach reagierte im Folgejahr mit einer neuen, entdramatisierten Fassung, tauschte etwa den mitreißenden Eingangs- und Schlusschor und einige Arien aus. Im Braunschweiger Dom werden sie am Karfreitag aber zum Glück zu hören sein. „Wir führen die heute übliche Mischfassung der fünf Varianten auf, die Bach im Lauf seines Lebens vorlegte. Einige sind nur in Teilen erhalten. Die heute favorisierte Fassung ist der Urversion wohl recht nahe“, sagt Domkantorin Elke Lindemann.

Was das Johannesevangelium von den anderen Evangelien abhebt

Für die 52-jährige Kirchenmusikerin ist es das erste Mal, dass sie eine Aufführung der Johannes-Passion leitet. Seit 24 Jahren ist sie Kantorin am Dom, vor einem Jahr wurde sie nach der Trennung der Landeskirche von ihrem Vorgänger Gerd-Peter Münden zur leitenden Domkantorin berufen. „Es ist schon eine besondere Herausforderung und Verpflichtung, nicht nur wegen des 300. Jahrestages der Uraufführung. Mir geht es nicht darum, der Passion meinen Stempel aufzudrücken, ich will Bachs Werk ganz einfach gerecht werden. Da steckt so viel drin, und all das will ich herausholen“, schwärmt Lindemann.

Die Johannes-Passion ist neben der 1727 uraufgeführten Matthäus-Passion die einzige erhaltene Passionsmusik Bachs. Mit rund zwei Stunden Aufführungszeit ist sie das kompaktere, dramatischere, leidenschaftlichere Werk gegenüber der noch größer dimensionierten, aber eher vergeistigten Matthäus-Passion. Sie spiegelt in vieler Hinsicht den besonderen Ansatz des Johannesevangeliums, das um 100 nach Christus und damit später als die anderen drei Evangelien entstand. Die christlichen Gemeinschaften hatten sich gefestigt, traten selbstbewusster auf. Johannes betont die Göttlichkeit, nicht die Menschlichkeit Jesu.

Domkantorin Elke Lindemann mit dem Domchor.
Domkantorin Elke Lindemann mit dem Domchor. © Dom | dom

Christus, der Souverän: „Herr, unser Herrscher“

All das transportiert schon Bachs eindrucksvoller, gewaltiger Eingangschor „Herr, unser Herrscher“: „Zeig uns durch deine Passion / dass du, der wahre Gottessohn / zu aller Zeit, auch in der größten Niedrigkeit / verherrlicht worden bist.“ Und genau so tritt Jesus bei Johannes auch auf, macht etwa der emeritierte Theologie-Professor und Evangeliums-Spezialist Klaus Wengst deutlich: „Er agiert geradezu als Souverän des eigenen Passionsgeschehens.“ Anders als in den anderen Evangelien liefert Jesus sich seinen Häschern selbst aus – „ich bin‘s“ –, tritt beim Verhör Pilatus gegenüber sehr selbstbewusst auf, trägt sein Kreuz selbst nach Golgatha und verstirbt mit den Worten „Es ist vollbracht“ (nicht wie bei Matthäus mit „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“).

Damit verbunden ist allerdings auch eine Problematik der Johannes-Passion: Sie suggeriert eine besondere Verantwortung „der Juden“ für Jesu Hinrichtung. Bach spitzt die Dramatik und das Drängen der jüdischen Vertreter auf das Todesurteil auch musikalisch zu, durch rasche Wechsel zwischen verkürztem Evangeliumsbericht und aufgewühlten (Volks-)Chören („Kreuzige, kreuzige!“). Die Wahrnehmung des johanneischen Textes sei hier „schlicht falsch“, sagte der Theologe Wengst unlängst in einem Vortrag am Dom. Johannes meine keine jüdischen Volksmassen, wenn er etwa Pilatus zu Jesus sagen lasse: „Dein Volk und die Oberpriester haben dich mir übergeben.“ Das „und“ sei vielmehr erklärend als „und zwar“ zu verstehen, so Wengst. „Johannes hat ganz bestimmte Juden im Blick, und er macht sie ausdrücklich kenntlich, als ,die Oberpriester und die Wachleute‘“. Zudem streiche er die Verantwortlichkeit des Pilatus für das Todesurteil heraus.

Bis hin zur Erlösung aller

Für Domkantorin Lindemann ist gleichwohl klar, dass Bach nicht „die Juden“, sondern „uns alle“ für Jesu Leiden verantwortlich macht. Das drücke sich in den berührenden, das Geschehen reflektierenden Arien und Chorälen aus („Du bist ja nicht ein Sünder / wie wir und unsre Kinder“). Zumal Bach mit Johannes die Souveränität Jesu herausstreiche – und die Erlösung aller durch die Passion: „Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein / müsst unsre Knechtschaft ewig sein“. Bis hin zum festlichen Schlusschoral „Herr Jesu Christ, erhöre mich / ich will dich preisen ewiglich!“.

Aufführung am Karfreitag, 29. März, 17 Uhr, im Dom. Mit dem Domchor, dem Göttinger Barock-Orchester sowie den Solisten Sophia Körber (Sopran), Charlotte Quadt (Alt), Markus Brutscher (Tenor), Michael Humann (Christus/Bass), Gotthold Schwarz (Bass). Karten u.a. bei der Konzertkasse ab 9,50 Euro.

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