Berlin/Rom. Er war der erste deutsche Papst der Neuzeit. 2013 trat er zurück. Nachruf auf einen, der erst gefeiert wurde, dann umstritten war.

Er war ein Bewahrer – der mit einem einzigen Satz das Papstamt revolutionierte. Doch Benedikts spektakulären Rücktrittserklärung als Pontifex vom 11. Februar 2013, als er erklärte, "mit voller Freiheit auf das Amt des Bischofs von Rom, Nachfolger Petri zu verzichten", ist nicht der einzige Widerspruch in der steilen Karriere eines Mannes, der vom Kaplan in der Münchner Heilig Blut Pfarrei bis zum Oberhaupt der Katholischen Kirche aufstieg.

Die Karriere des Joseph Ratzinger, sein Weg von Marktl am Inn in den Vatikan, war gezeichnet von Brüchen und Kurswechseln; manche davon hat er gezielt angestrebt, gegen andere, wie die Wahl zum Papst am 19. April 2005, hat er sich vergeblich gewehrt.

Benedikt XVI. war kein Charismatiker wie sein Vorgänger Johannes Paul II. und kein Menschenfischer, wie sein Nachfolger Franziskus einer ist. Joseph Ratzinger, der "Professor Papst", der Gelehrte, der die Bücher liebte, fremdelte sichtlich mit dem Papstamt. Und sein Rücktritt war für ihn gleichsam eine Erlösung. Jetzt ist er im Alter von 95 Jahren gestorben.

Benedikt XVI.: Eine Karriere voller Wiedersprüche

Joseph Ratzinger, geboren am 16. April 1927, ein Karsamstag, wuchs in einem erzkatholischen bayerischen Elternhaus auf. "Religion war ganz zentral", sagte er einmal selbst über seine Kindheit. Das gemeinsame Gebet zu den Mahlzeiten, das Lesen im Gebetbuch, der sonntägliche Kirchgang.

Auch die liturgischen Feste faszinierten ihn früh. Doch schon bald habe sich gezeigt, "dass mich von Anfang an alles, was in der Religion gesagt wurde, eben auch rational interessiert hat". Ratzinger sprach im Rückblick von einem "rationalen Abenteuer".

„Wir sind Papst“: Am 19. April 2005 wird Joseph Ratzinger als erster Deutscher seit 482 Jahren zum Papst gewählt. Von der Benediktionsloggia des Petersdoms richtete er das Wort an die Weltöffentlichkeit.
„Wir sind Papst“: Am 19. April 2005 wird Joseph Ratzinger als erster Deutscher seit 482 Jahren zum Papst gewählt. Von der Benediktionsloggia des Petersdoms richtete er das Wort an die Weltöffentlichkeit. © dpa Picture-Alliance / epa ansa Claudio Onorati

Der somit vorgezeichnete Weg in die Theologie führte den jungen Ratzinger bald nach seiner Priesterweihe 1951 in die Wissenschaft. Nach nur 14 Monaten seelsorgerischer Tätigkeit als Kaplan erfolgte ein Ruf an das Freisinger Priesterseminar.

Ratzinger stürzte sich begeistert in die Arbeit, promivierte über das Thema "Volk und Haus Gottes in Augustinus Lehre von der Kirche". Schon mit 30 hatte er sich habilitiert, lehrte in der Folge als Universitäts-Professor in Bonn, Münster und Tübingen. Der Gelehrte war in seinem Element. Seine Vorlesungen waren überfüllt. Ratzinger wurde zum theologischen Star.

Ratzinger galt als progressiver Theologe

Er galt als progressiver Theologe. So beklagte er, die Kirche habe "zu straffe Zügel, zu viele Gesetze, von denen viele dazu beigetragen haben, das Jahrhundert des Unglaubens im Stich zu lassen, anstatt ihm zur Erlösung zu helfen".

Es war ein Vorgriff auf das Zweite Vatikanische Konzil ab 1962, an dem Ratzinger als offizieller Konzilstheologe und enger Vertrauter des Kölner Kardinals Josef Frings mitwirkte. Das Konzil öffnete sich der modernen Welt – und Ratzinger trieb diesen Wandel voran.

Doch der vorsichtig liberale Kurs des Konzil-Teilnehmers wurde schnell beendet, als der Uni-Theologe mit der Studentenrevolte konfrontiert wurde. Der respektlose Umgang der Studenten mit der Kirche kränkte den Geistlichen, ihr unversöhnlicher Ton stieß ihn ab.

Vom Liberalen zum Konservativen

In der Folgezeit wandelte er sich vom Liberalen immer mehr zum Konservativen. Es war nur konsequent, dass konservative Papst Johannes Paul II. den Kardinal Ratzinger zum Präfekten der Glaubenskongregation machte - und damit zum obersten Glaubenshüter des Katholizismus. Der Pole Wojtyla und der Deutsche Ratzinger – sie wurden "zur Speerspitze eines Rollback in der Kirche", wie es der "Spiegel" einmal formulierte.

Symbolischer Höhepunkt einer Pilgerreise nach Polen: Am 29. Mai 2006 besucht Papst Benedikt XVI. das Konzentrationslager in Auschwitz.
Symbolischer Höhepunkt einer Pilgerreise nach Polen: Am 29. Mai 2006 besucht Papst Benedikt XVI. das Konzentrationslager in Auschwitz. © picture alliance / AP Photo | dpa Picture-Alliance / DIETHER ENDLICHER

Trotzdem war es eine große Überraschung, als Joseph Ratzinger am 19. April 2005 als erster Deutscher seit 482 Jahren zum Papst gewählt wurde. Er hatte sich nicht nach dem Amt gedrängt und als Benedikt XVI. tat er sich denn auch schwer. Er grenze sich nicht energisch genug von der erzkonservativen Piusbruderschaft ab und fand erst spät die richtigen Worte, als die zahlreichen Fälle von Missbrauch durch katholische Priester bekannt wurden.

Zu den Widersprüchen, die ihn spät einholten, gehörte der Münchener Missbrauchsskandal. Mitte Januar 2022 erklärte der 94-Jährige emiritierte Papst, der von 1977 bis 1982 Erzbischof von München war, die Lektüre eines Gutachten zum Skandal erfülle ihn "mit Scham und Schmerz über das Leid", das den Opfern zugefügt worden.

Hat der Missbrauchsskandal sein Lebensbild zerstört?

Ratzinger stand damals doppelt in der Kritik. Rückwirkend wurde ihm vorgehalten, seinerzeit zu wenig unternommen zu haben, um die Opfer zu schützen und Täter zur Rechenschaft zu ziehen. In mindestens vier Fällen lastete die Untersuchung dem früheren Kardinal Fehlverhalten an.

Obendrein musste er gegenüber den Gutachtern eine Falschaussage einräumen ("aus Versehen") und korrigieren. Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller urteilte harsch im Bayrischen Rundfunk: "Er hat heute sein eigenes Lebensbild zerstört."

Rede in Freiburg sorgte für Furore

Für Furore sorgte auch Benedikts Freiburger Rede anlässlich des Deutschlandbesuchs. Es war eine scharfe Kritik an der deutschen katholischen Amtskirche: In der "bestens organisierten" katholischen Kirche Deutschlands gebe es einen "Überhang an Strukturen gegenüber dem Geist"; es seien "kirchliche Routiniers" am Werk, deren "Herz vom Glauben nicht berührt" sei.

Die Kirche müsse Güter und Privilegien abstreifen und sich "beherzt ent-weltlichen". Die Rede wurde viel diskutiert – Folgen darüber hinaus hatte sie kaum. Die Amtskirche verteidigt ihre Strukturen mit aller Kraft.

Joseph Ratzinger hinterlässt ein enormes theologisches Schriftenwerk. Hier zeigt sich auch die große Stärke des Gelehrten Ratzinger. Bücher wie "Salz der Erde" oder "Einführung in das Christentum" sind längst zu Standardwerken geworden und bilden einen schier unerschöpflichen Fundus für gläubige Leser. Seine Jesus-Trilogie ist einzigartig. Hier zeigt sich auf beeindruckende Weise, wie sehr Ratzinger ein Meister des geschriebenen Wortes war.

Wenige öffentliche Auftritte nach seinem Rückzug

Hin und wieder zeigte sich Benedikt nach seinem Rückzug vom Chefposten im Vatikan noch bei öffentlichen Auftritten. Für großes Aufsehen sorgte zuletzt im Juni der Besuch Benedikts am Sterbebett seines Bruders Georg in Regensburg.

Doch meist zog sich der "Papst-Emeritus" zurück in sein schlichtes Arbeitszimmer im Kloster Mater Ecclesiae, wo er nach seinem Rücktritt lebte: ohne die Last des übergroßen Amtes, bei seinen geliebten Büchern. Auf einem Auge war er seit einiger Zeit fast blind, das Gehör war auch schwach geworden.

Kuss vom Papst: Nach einer Generalaudienz auf dem Petersplatz im Vatikan segnet Papst Benedikt XVI. ein Baby.
Kuss vom Papst: Nach einer Generalaudienz auf dem Petersplatz im Vatikan segnet Papst Benedikt XVI. ein Baby. © AFP via Getty Images | ALBERTO PIZZOLI

Nebeneinander zweier Päpste sorgt für Schwierigkeiten in der Kirche

Gelegentlich melde er sich noch zu Wort, was von Vatikan-Apologeten sogleich zu einem Dolchstoß in Richtung seines Nachfolgers Franziskus, gedeutet wurde, zuletzt bei der Debatte um den Zölibat. Vom "Krieg der Päpste" war die Rede.

Tatsächlich wurde da aber wohl mehr hinein interpretiert als tatsächlich dran war. Allerdings zeigte sich auch: Das Nebeneinander zweier Päpste hat die katholische Kirche in große Schwierigkeiten gebracht und das Papst-Amt zumindest nicht gestärkt.

Benedikt: "Ich habe mein Werk getan"

Benedikt arbeitete zuletzt nicht mehr an neuen Büchern. Einem Gesprächspartner, dem Journalisten Peter Seewald verriet er in einem Interview: "Ich habe mein Werk getan." Und in einem Brief an die italienische Tageszeitung "Corriere della Sera" schrieb er schon vor längerer Zeit: "Während meine physischen Kräfte langsam schwinden, pilgere ich innerlich nach Hause."

So bleibt von dem Papst Benedikt XVI., der acht Jahre an der Spitze der Katholischen Kirche stand, neben seinem Ehrfurcht einflößenden literarisch-theologischen Erbe vor allem ein Vermächtnis: sein Rücktritt, der das Papstamt ein Stück weit entzauberte, es aber auch menschlicher machte.

Auch interessant: Urbi et Orbi – was bedeuten diese Worte eigentlich?