Braunschweig. Helfen nur noch mehr Sanktionen, weil Vereine wegschauen? Das Bild, das ein Fachmann für Einsatzlagen im Stadion zeichnet, ist düster.

An jedem Wochenende zahlen Fußballvereine Zehntausende Euro für das Fehlverhalten ihrer Anhänger. Das DFB-Sportgericht nennt es „unsportliches Verhalten“. Den Großteil der Strafen verhängt das Gericht dabei wegen des Abbrennens von Pyro-Technik. Erst am Dienstagabend wurde ein Urteil gegen Hannover 96 rechtskräftig. Nach Bengalo-Exzessen beim Spiel gegen Magdeburg im Oktober 2023 wurde der Verein zu knapp 125.000 Euro verdonnert. Die Höhe der Geldstrafe richtet sich unter anderem nach Intensität, Grad der Gefährdung Unbeteiligter, wie den Spielern auf dem Rasen, und ob dem Vergehen der Fans auch eine Unterbrechung auf dem Rasen folgte. Im konkreten Fall von 96 zählten die Spielbeobachter während und nach dem Spiel 169 entzündete Bengalos, 2 abgeschossene Raketen und 15 sogenannte Blinker.

Polizei zu Pyro-Vergehen: Ordnungswidrigkeiten mehr als verzehnfacht

Dass die Situation im Stadion nicht nur gefühlt immer extremere Ausmaße annimmt, sondern auch faktisch, das belegen die Zahlen im Jahresbericht der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) für die Saison 2022/23 in allen drei Fußball-Profiligen. Sie bemerken eine Verzehnfachung der „Anzahl der Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit dem Missbrauch von pyro-technischen Erzeugnissen“. Wurden in der Vergleichsspielzeit, der Vor-Corona-Saison 2018/2019, lediglich 242 Verstöße registriert, waren es in der abgelaufenen Saison 2575 festgestellte Ordnungswidrigkeiten – im Stadion, aber auch in dessen Umfeld.

Der Eintracht aus Braunschweig und dem VfL aus Wolfsburg wurden im Kalenderjahr 2023 fast 170.000 Euro beziehungsweise rund 200.000 Euro an Geldbußen aufgebrummt. Dabei wartet der Zweitligist immer noch auf die Strafe aus dem Derby-Hinspiel im November, als blau-gelbe Anhänger in Hannover randalierten, das Stadion demolierten, Bengalos zündeten und bis auf das Spielfeld schossen. Die Polizei in Hannover hatte bis Mitte März schon 200 Verfahren eingeleitet, die meisten Tatverdächtigen seien der Braunschweiger Ultraszene zuzuordnen. Eintracht rechnet selbst mit einer Strafe im unteren sechsstelligen Bereich.

Günther Epple, Leitender Direktor an der Hochschule der Polizei in Münster und Experte für Einsatzlagen rund um das Stadion.
Günther Epple, Leitender Direktor an der Hochschule der Polizei in Münster und Experte für Einsatzlagen rund um das Stadion. © Hochschule Polizei Münster | Hochschule der Polizei Münster

Experten für Stadion-Einsatzlagen wie Günther Epple von der Hochschule der Polizei in Münster zeichnen angesichts des Ausmaßes an Pyro im Stadion ein düsteres Bild. Er spricht von einer Art Kapitulation der Vereine gegenüber der aktiven Fan-Szene, die laut Epple keine Verhandlungsbereitschaft signalisiere und die Vereine erpresse.

Polizei-Experte: Viele Pyro-Geschädigte stellen keine Anzeige

Man führe als Polizei die Maßnahmen gegen die illegale Verwendung von Pyro-Technik zwar konsequent weiter, „habe den Kampf im Fußball aber längst verloren“, erklärte der Leitende Polizeidirektor gegenüber unserer Zeitung. Ohne weitreichende „Maßnahmeninstrumente“, die von allen Beteiligten getragen werden müssten, werde es keine wesentlichen Verbesserungen geben, so das bittere Fazit Epples.

Epple machte gegenüber unserer Zeitung die Sicht der Polizei deutlich, die auch den Schutz oftmals unbeteiligter Zuschauer im Stadion gewähren müsse. Die Statistik der ZIS, so der Polizei-Fachmann, zeige nur das Hellfeld. Viele Straftaten blieben im Dunkeln. „Viele durch Rauch, Hitze und Knall geschädigte Besucher erstatten nach polizeilicher Erfahrung keine Anzeige und tauchen deshalb auch nicht in der Statistik auf“, so Epple.

Er fordert daher die Verschärfung der rechtlichen Bestimmungen, wenn es um den Erwerb und die Verwendung von Pyrotechnik geht und intensivere Durchsuchungsmaßnahmen vor Einlass in die relevanten Blöcke. „Es ist doch bekannt, in welchen Blöcken Pyrotechnik benutzt wird.“ Epple kann sich zudem „personalisierte Tickets“ vorstellen und verlangt mit Blick auf Gewalt und Pyrotechnik Verzichtserklärungen der organisierten Fanszenen. Andernfalls müssten Vereine dafür sorgen, dass Eintrittskarten nicht an diese Fan-Gruppen verkauft würden.

Es ist doch bekannt, in welchen Blöcken Pyro-Technik benutzt wird.
Günther Epple - Hochschule der Polizei in Münster

Vereine und DFB nimmt Epple, der heute Führungskräfte der Polizei unter anderem für Einsatzlagen rund um das Stadion ausbildet, besonders in die Pflicht. Dabei müsse der Dialog mit den Ultras von innen, also von den Vereinen selbst angestoßen werden. Von außen werde das nicht mehr gelingen. Zuletzt habe er immer öfter den Eindruck gewinnen müssen, die Vereine wollten keine Änderungen herbeiführen. Aussagen wie „Da kann man nichts tun“, tritt Epple entgegen. Er glaubt eher: „Da will man nichts tun, zumindest nichts, was wirklich wirksam ist.“

Sanktionskatalog noch nicht ausgereizt: Personalisierte Tickets, Blocksperren, Spielabbrüche denkbar

Die Sanktionsschrauben könnten nach Ansicht von Epple zudem noch weiter angezogen werden. Nach gravierenden Vorfällen könnte der Ausschluss von Fans oder Blockstrafen bei Spielen sowie das Verbot von großflächigen Bannern ein Mittel sein, schärfer zu sanktionieren. Epple bringt dabei auch Spielabbrüche ins Spiel, sollten Unterbrechungen durch die Schiedsrichter immer wieder ins Leere laufen. Auch könnten „deutlich höhere Geldstrafen“ ein Werkzeug sein, die Bereitschaft der Vereine zur Zusammen- und Mitarbeit zu erhöhen.

Epples Analyse fußt auf der polizeilichen Erkenntnis, dass sich beim Umgang mit der „missbräuchlichen Verwendung von Pyro-Technik seit Jahren, besser seit Jahrzehnten“, nichts Wesentliches getan habe. Daher schlägt er neben Maßnahmen der Sanktionierung auch die wissenschaftliche Begleitung des Themas vor. „Um das Problem endlich in seiner Gesamtheit zu betrachten, ist aus meiner Sicht eine umfangreiche Studie zu diesem Thema notwendig. Hierbei sollten alle Beteiligten – Fußballbesucher allgemein, Ultras, Vereine, Verbände, Ordnungsdienste, Polizei, Feuerwehr, Kommune – einbezogen werden.“

Legalisierung-Debatte für Polizei kein Ausweg

In der Legalisierung der Pyro-Technik sieht Epple allerdings auch keinen Ausweg. Dabei geht es bei dieser Debatte um im Vorfeld eines Spiels getroffene Absprachen zwischen Polizei und Veranstalter, das Zünden von Bengalos, Fackeln oder Rauchtöpfen in bestimmten Zonen vor der Kurve und zu bestimmten Zeiten zu erlauben. Solch eine Idee hatte auch die Koordinationsstelle Fanprojekte KOS in Frankfurt, der Dachverband der Fan-Projekte in Deutschland, vor einiger Zeit formuliert. Er glaube nicht daran, dass die Bedingungen, unter denen das stattfinden könne, von den Ultras akzeptiert würden, sagte Epple.