Braunschweig. Der Braunschweiger Hüseyin M. ist aus türkischer U-Haft entlassen. Freigesprochen ist er noch nicht. Er soll Erdogan beleidigt haben.

Seine Familie erwartet Hüseyin M. noch am heutigen Freitag oder spätestens am Samstag wieder zurück in Braunschweig. Hüseyin M. und seine Ehefrau sowie die Familie durchlebten dramatische Tage. Am Donnerstag dann die erste gute Nachricht nach Wochen: Hüseyin M. wird nach 45 Tagen aus der U-Haft entlassen und darf wieder zurück nach Braunschweig reisen. Der Prozess wird aber am 9. April fortgesetzt.

Ein paar angebliche Beleidigungen auf Facebook vor mehr als drei Jahren: Dafür musste Hüseyin M. in türkische U-Haft. „Wir sind erst mal alle erleichtert und danken allen, die geholfen haben“, sagte der Bruder des 42-Jährigen, Deniz M., nun unserer Zeitung. Damit droht keine weitere Eskalation im deutsch-türkischen Verhältnis.

Es fing so harmlos an: Im Ferienhaus der Schwiegereltern in Kusadasi, etwa 100 Kilometer südlich von Izmir, wollte Hüseyin M. mit seiner Frau Urlaub machen und entspannen. Dann geschah etwas völlig Unerwartetes: Eine Antiterroreinheit stürmte in der Nacht vom 24. auf den 25. August das Ferienhaus, nahm den Braunschweiger, der seit 2012 die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, fest. „Sie haben ihn wie einen Schwerverbrecher behandelt“, sagte sein Bruder Deniz M.

Erst am 3. Oktober konnte Hüseyin M. zum ersten Mal mit seiner Ehefrau telefonieren. Hüseyin M. sagte, er sei voller Hoffnung, dass er das Gefängnis in Söke, einer Kleinstadt an der Ägäisküste, bald verlassen könne. Das erklärte sein Bruder Deniz M. Demnach sagte Hüseyin M., dass es ihm gut gehe. Das Gefängnis in Söke sei ganz neu und sauber, sagte der Beschuldigte seiner Frau am Telefon.

Offenbar beschönigte Hüseyin M. seine Situation, um die Familie zu beruhigen. Sein Anwalt Erdal Güngör sagte der Deutschen Presse-Agentur am Donnnerstag jedoch, dass die Haftbedingungen kritisch gewesen seien. Hüseyin M. teilte sich eine für 25 Personen konzipierte Zelle mit 44 Mithäftlingen. „Sie schlafen auf dem Boden. Mein Mandant hat kein Kissen“, sagte der Anwalt demnach.

Die Vorwürfe gegen Hüseyin M. klingen absurd: Dem Braunschweiger werden beleidigende Äußerungen auf Facebook in den Jahren 2014 und 2015 vorgeworfen. Nach deutschem Recht wären die Vorwürfe verjährt. Hüseyin M. soll Recep Tayyip Erdogan als „Diktator“ und „Kindermörder“ bezeichnet haben. 2014 war Erdogan Ministerpräsident, 2015 schon Präsident.

Auf die erste „Beleidigung eines öffentlichen Beauftragten“ stehen bis zu zwei Jahre Gefängnis, auf Präsidentenbeleidigung bis zu vier Jahre. Sollte M. in beiden Fällen schuldig gesprochen werden, drohen ihm bis zu sechs Jahre Haft.

Die Familie setzte sämtliche Hebel in Bewegung

Deniz M. zeigte sich am Donnerstag erleichtert. Zuvor erhielt er die Nachricht per Telefon, sein Bruder sei freigesprochen worden. So ist es nicht. Die Freude war dennoch groß, dass die Familie ihn bald wiedersehen darf.

Der Großteil der Familie lebt in Salzgitter. Hüseyin M. wohnt mit seiner Frau mittlerweile in Braunschweig. Der Vater kam bereits in den 60er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland, die Familie zog 1989 nach. Geboren wurde Hüseyin M. 1976.

Die Familie ist in der Region fest verwurzelt. Die Brüder spielen bzw. spielten Fußball im Verein, engagieren sich in Betriebsräten.

Deniz M. bestreitet, dass sein Bruder Erdogan jemals beleidigt habe. Laut Anklageschrift hat Hüseyin M. bei der Vernehmung bestritten, die Texte geschrieben zu haben. Dem Bruder liegt die Anklageschrift in türkischer Sprache vor. Er sagte: „Ich bin bei Facebook mit ihm befreundet. Ich sehe doch, was er postet.“ Die Familie denke liberal, sei der türkischen Regierung gegenüber kritisch eingestellt – „aber nie beleidigend“.

Von Deutschland aus setzte die Familie alle Hebel in Bewegung. Die Ehefrau informierte Landtags- und Bundestagsabgeordnete, schaltete das Auswärtige Amt und das Deutsche Generalkonsulat in Izmir ein. Deniz M. sagte: „Wir haben auch Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) eingeschaltet. Er hat seine Kontakte zum türkischen Staat bereits genutzt. Ich bin sehr dankbar, dass sich so viele Leute um meinen Bruder kümmern. Das war unser Ziel.“ Salzgitter gehört zum Wahlkreis Gabriels. Dieser hatte bereits dem „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel Anfang des Jahres zur Freiheit verholfen. Yücel saß monatelang in türkischer U-Haft. Es war der größte Erfolg in Gabriels kurzer Amtszeit als Außenminister.

Die Mail an die Landtags- und Bundestagsabgeordneten liegt unserer Zeitung vor. Die Ehefrau schildert ausführlich, was ihrem Mann widerfahren ist. Sie selbst will sich öffentlich nicht äußern. Die Ehefrau schreibt, dass M. von einem Unbekannten bei der türkischen Polizei denunziert wurde. „Eine mehrjährige Haftstrafe würde mein Ehemann nicht überstehen“, schrieb sie.

Ein Cousin, der Journalist ist und in Frankfurt wohnt, hat Deniz M. dazu geraten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Schwägerin sieht das kritisch. Ein weiterer Cousin ist Rechtsanwalt in Istanbul. Er verfolgte den Prozess vor dem Landgericht in Ankara, versorgte die Familie in Braunschweig und Salzgitter mit Informationen. Die Ehefrau ist seit drei Wochen wieder in Braunschweig. Ihr Urlaub ist aufgebraucht.

Auch Hüseyin M. hat seinen Urlaub längst aufgebraucht. „Er hat kein Einkommen mehr. Sein Arbeitgeber hat ihn erst mal auf unbestimmte Zeit freigestellt“, sagte Deniz M. Ende vergangener Woche. „Es geht mittlerweile auch um seine wirtschaftliche Existenz. Wir haben Angst, dass er seinen Job verlieren könnte“, sagte Deniz M.

Jetzt ist Hüseyin M. bald wieder zurück. Wie es weitergeht, wird man sehen müssen. Noch ist unklar, ob Hüseyin M. bei der Fortsetzung des Prozesses in Ankara anwesend sein muss. Wahrscheinlich ist das.

Der Braunschweiger Bundestagsabgeordnete Carsten Müller (CDU) verfolgte den Fall aus der Ferne. „Sein Schicksal hat mich sehr bewegt. Vom Auswärtigen Amt habe ich mich deshalb auch auf dem Laufenden halten lassen“, sagte er.

„Ich hoffe sehr, dass Deutschland Druck auf die Türkei ausübt“, sagte Deniz M. Als Hüseyin M. noch in U-Haft saß, erhob sein Bruder Deniz M. schwere Vorwürfe gegen den türkischen Staat: „Mein Bruder sitzt ohne richtige Anklage, ohne einen richtigen Beweis, dass er Erdogan beleidigt hat, im Gefängnis.“ Er hoffe auf ein faires Urteil. Sein Bruder sei als „politische Geisel“ gehalten worden.

Das impliziert, dass Erdogan aus den insgesamt fünf deutschen Gefangenen Kapital schlagen will. Er forderte nach seinem Staatsbesuch in Deutschland die Auslieferung von 136 Menschen. Erdogan bezeichnete die Gesuchten als Terroristen. Man habe der deutschen Regierung eine entsprechende Namensliste übergeben, sagte Erdogan laut der Zeitung „Hürriyet“.

Unsere Zeitung erfuhr, dass Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Steinmeier vor dem Staatsbesuch Erdogans in einem schriftlichen Vermerk über die Situation der fünf in der Türkei inhaftierten Deutschen informiert wurde. Dabei wurde auch explizit Hüseyin M. erwähnt. Es geht also auch auf höchster Ebene um den Braunschweiger. Hüseyin M. ist bald wieder zu Hause. Noch ist der Spuk aber nicht komplett vorbei.