Göttingen. Wer sind eigentlich diese Uiguren? Warum ergeht es ihnen so übel? Ein Turkologe gibt Antwort – und spricht auch übers problematische VW-Engagement.

Die Unterdrückung der muslimischen Uiguren durch die chinesische Zentralregierung ist spätestens seit dem Bekanntwerden von „Umerziehungslagern“ in der Provinz Xinjiang ein brisantes Thema. Auch VW wird regelmäßig wegen seines Engagements in der chinesischen Provinz kritisiert.

Doch inwiefern sind die Uiguren eine besondere Minderheit im chinesischen Reich? Jens Peter Laut (geb. 1954 in Hannover) ist Orientalist und war Professor für Turkologie und Zentralasienkunde an der Georg-August-Universität Göttingen. Seit Jahrzehnten befasst sich Laut mit den Uiguren.

Das Thema ist ernst, zum Teil abgründig. Da hätte ich Lust, eher unverfänglich zu beginnen. Wie schmeckt Ihnen Pilav-Reis mit Hammelfleisch und Karotten? Ich habe gelesen, dies sei das klassische uigurische Gericht.

Um ehrlich zu sein: Nicht so besonders. Das Gericht ist sehr, sehr fettig – und gewöhnungsbedürftig.

Sie haben diese große chinesische Provinz Xinjiang, in der die Uiguren leben, vielfach bereist. Sie sind nicht aus kulinarischen Gründen dort gewesen, sondern haben philologische Studien getrieben – auch für ein Wörterbuch des Alt-Uigurischen, das in Göttingen entsteht. Wie ist es dazu gekommen?

Das ist ein besonderes Stück Göttinger Wissenschaftsgeschichte. In den 60er Jahren hat der Turkologe Gerhard Doerfer hier ein Institut gegründet und auch über das vorislamische türkische Zentralasien geforscht. Und sein Nachfolger – mein Lehrer – Klaus Röhrborn hatte bereits in den 70er Jahren mit dem Alt-Uigurischen Wörterbuch begonnen. Und als ich nun wieder Röhrborn nachfolgte, habe ich bei der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen einen Antrag gestellt, um dieses langfristig angelegte Projekt hier fortzuführen. Mit Erfolg: Die Förderung begann 2017, und bis 2040 soll das laufen. Übrigens: Bereits 2021 hat der Projektmitarbeiter Jens Wilkens ein „Handwörterbuch des Altuigurischen“ vorgelegt, dessen digitale Ausgabe bereits mehr als 11.000 Downloads hat!

Bei diesem Projekt geht es einerseits um sprachgeschichtliche Feinheiten und eine Hochkultur des Mittelalters. Andererseits birgt es reichlich politischen Sprengstoff, weil es genau das Gegenteil dessen ist, was man in Peking gut finden dürfte. Ist Ihnen das immer schon klar gewesen? Wie hat sich das ausgewirkt?

Dass wir beobachtet und überwacht werden, das war uns von Anfang an bewusst. Ich möchte z.B. niemanden von den Studierenden persönlich der Spitzelei bezichtigen, aber… nun, ich möchte es so sagen: Unsere Arbeit wird in China sehr genau zur Kenntnis genommen. Verbieten oder unterbinden können sie diese Arbeit nicht, denn die meisten Fragmente, mit denen wir arbeiten, sind komplett digitalisiert und weltweit zugänglich – wenngleich die in chinesischen Museen befindlichen Fragmente natürlich im Moment nicht mehr zur Verfügung stehen. Das war bis 2014 anders. Fünfmal war ich dort, 2014 zum letzten Mal, und konnte – mit gewissen Schwierigkeiten – mit einigen Dokumenten arbeiten. Ich konnte in den 90ern auch die Höhlentempel besichtigen, die ja immer noch voller unentdeckter Wandinschriften und auch Wandmalereien sind. Den meisten Chinesen ist gar nicht klar, welche blühenden Hochkulturen es in vorchinesischer Zeit auf heute chinesischem Gebiet gab. Die sind immer ganz überrascht, wenn dort wieder eine Mumie gefunden wird und sich herausstellt, dass es sich um große und rothaarige Menschen gehandelt hat. Wobei ich sagen muss, dass ich auch auf meinen Reisen schon Argwohn und Kontrolle erlebt habe, dass man auch damals nicht alleine herumlaufen und sowieso keine Fotos machen durfte. Ein uigurischer Mitarbeiter, mit dem ich in einem Höhlenkloster gewesen bin, soll später verhaftet worden sein. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, es ist ratsam, da nicht nachzufragen. Und heute? Geht das alles gar nicht mehr. Auch diejenigen in China, die sich für diese alte Hochkultur interessieren, haben keine Chance.

Ich habe in der „taz“ über einen Doktoranden von Ihnen gelesen, der in Deutschland arbeitet und Angst um seine Angehörigen hat. Wie sieht es da aus?

Das ist sehr bedrückend. Sein Vater hat über uigurische Namen geforscht – und ist in einem dieser schrecklichen Lager gelandet. Mein Doktorand lebt in Deutschland und ist versorgt, doch er hat keine Chance, den Kontakt zu seiner Familie zu pflegen. Das wird ja alles abgehört und wäre wahrscheinlich kontraproduktiv. Das sind tragische Geschichten, das kann man nicht anders sagen. Auch das Schicksal meiner ehemaligen Doktoranden bedrückt mich. Es kann sein, dass die längst frei sind und sich vernünftigerweise nicht melden. An unserer Wörterbuch-Arbeit sind aus den genannten Gründen jedenfalls keine chinesischen oder uigurischen Doktoranden beteiligt. Und doch gab es vor Jahren plötzlich Ansätze einer Zusammenarbeit. 2017 kam eine hochrangige siebenköpfige chinesisch-uigurische Delegation sogar extra nach Göttingen. Da ging es um eine Art Partnerschaft mit dem Wörterbuchprojekt, um Austausch. Doch die Delegation muss aus Peking hart gebremst worden sein. Die fuhren wieder nach Hause, und ich habe nie wieder von denen gehört. Keine einzige E-Mail wurde seither beantwortet. Und aus dieser Zeit stammen auch die ersten Berichte über die Arbeits- oder Umerziehungslager für die Uiguren.

Prof. Jens Peter Laut mit uigurischen Kindern in der alten uigurischen Hauptstadt Chotscho.
Prof. Jens Peter Laut mit uigurischen Kindern in der alten uigurischen Hauptstadt Chotscho. © Privat | Privat

Die Provinz Xinjiang ist seit 1949 Teil der Volksrepublik China. Wieso ist diese Unterdrückung seit 2014 so forciert worden?

Die Uiguren sind keine sozusagen pflegeleichte Minderheit, die man hübsch fotogen anziehen und als liebenswerte Exoten vorzeigen kann. Die haben einen rebellischen Charakter, und als Muslime haben sie sich immer daran gestört, zum „Reich der Ungläubigen“ zu gehören. Ich persönlich habe die meisten Uiguren aber nicht als fanatisch strenge Muslime erlebt. Es wird zum Beispiel vielerorts Alkohol ausgeschenkt. Doch die Situation in dem großen Land ist sicherlich komplexer. Ein Uigure hat mir aus seinem Heimatdorf erzählt, dass ältere uigurische Muslime dort immer auf den Feldwegen abseits der Straßen gehen würden, nie auf den Straßen selbst. Begründung: Die Straßen wurden ja von Ungläubigen gebaut. Und Uiguren würden niemals zu einem Chinesen essen gehen – da auf seinem Teller möglicherweise schon mal Schweinefleisch gelegen hat. Es kam zu Attacken, sogar zu Aufständen. Und dann hat die chinesische Regierung die Attacken – auch mit Blick auf den islamistischen Terrorismus weltweit – vor gut zehn Jahren zum Anlass genommen, die Repressionen zu verschärfen. Ich glaube nicht, dass irgendwo auf der Welt der Islam so unterdrückt wird wie in Xinjiang. Ich habe schon 2014 auf den Bussen Schilder gesehen, die Männer mit Bart und Frauen in traditioneller Tracht abbilden, und zwar durchgestrichen. Die dürfen so also nicht mitfahren! Und das war nur der Anfang: Ich habe auf meinem Schreibtisch fünf, sechs Bücher liegen mit Berichten aus chinesischen Straflagern oder mit Schilderungen, wie die Muslime zwangsweise am Fasten gehindert werden. Ich weiß, dass einige Berichte mit Vorsicht zu genießen sind. Doch ich fürchte: Das allermeiste stimmt. Die chinesische Regierung will ein homogenes Land regieren – ohne störend eigenartige Uiguren. Hinzu kommt der Reichtum an Bodenschätzen. Ein Fünftel der Kohle-, Gas- und Erdölvorkommen Chinas befindet sich in Xinjiang. In einem formal autonomen Gebiet kann man da keine Widerstände gebrauchen. Auch die Ansiedlung von Han-Chinesen ist entsprechend angelegt. Ich schätze, dass es heute maximal noch acht Millionen Uiguren gibt, bei einer immer größer werdenden Anzahl von angesiedelten Han-Chinesen.

Täuscht mich der Eindruck, dass die Unterdrückung oder auch Auslöschung in anderen islamischen Ländern eifrig beschwiegen wird? Bei anderer Gelegenheit scheint die „islamische Welt“ mehr um Einigkeit und Solidarität bemüht. Jedenfalls habe ich in der „NZZ“ gelesen, dass vor einem Jahr 69 Staaten, darunter Ägypten, Marokko, Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, eine Erklärung unterzeichnet haben, derzufolge Chinas Politik gegenüber den Uiguren eine „interne Angelegenheit“ sei.

Ja, das finde ich wirklich empörend. Die Uiguren haben schon wegen ihrer geographischen Lage wenig Kontakt zur islamischen Welt, spielen auch in der islamischen Theologie kaum eine Rolle. Sie sind Muslime zweiter Klasse, und ihr Schicksal ist der islamischen Welt offenbar wirklich egal. Das scheint weder Herrn Erdoğan noch andere Politiker der islamischen Welt ernsthaft zu interessieren. Hier sieht man, wie erfolgreich die chinesische Politik ist, mit der „Neuen Seidenstraße“ und anderen Methoden andere Länder von sich abhängig zu machen. Mir haben Uiguren oft erzählt, wie bestürzend für sie der Mangel an Solidarität aus anderen Ländern ist, besonders aus islamischen Ländern und ganz besonders aus der Türkei.

Was heißt das für uns? Wie wichtig finden Sie es, hierzulande auf die Unterdrückung hinzuweisen?

Ich finde das ungemein wichtig. Die Berichte aus verlässlichen Quellen sprechen eine eindeutige Sprache. Der Wissenschaftler Adrian Zenz und andere haben anhand von Satellitenaufnahmen und Datenleaks die Existenz der Umerziehungslager seit 2017 nachgewiesen. Auch der deutsche Sinologe Björn Alpermann hat die Unterdrückung oder auch „Sinisierung“ seriös beschrieben. Wenn man etwas aus der Geschichte lernen kann, dann ist es doch wohl, dass der Druck von außen in solchen Situationen beinahe die einzige Hoffnung ist. Die freundliche Diplomatie und der Beschwichtigungsansatz werden von China ohnehin nur als Ausdruck von Schwäche verstanden. Insofern finde ich es gut, dass unsere Außenministerin Baerbock eine andere Sprache für diese Themen gefunden hat als ihre Vorgänger. Das ist der Weg, der weiter beschritten werden muss, damit diese Dinge bekannter werden, auch in China selbst. Dem „normalen“ Han-Chinesen ist oft gar nicht klar, was in Xinjiang los ist. Wir müssen mit der nötigen Pene-tranz darauf hinweisen – unbedingt.

Blick auf die Provinz Xinjiang.
Blick auf die Provinz Xinjiang. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Wie stehen Sie vor diesem Hintergrund zum Engagement von VW? Der Konzern betreibt gemeinsam mit dem chinesischen Staatskonzern SAIC seit 2012 ein Werk in der Hauptstadt der Provinz Xinjiang. Zuletzt hat VW – nach vieler Kritik – darauf verwiesen, im Werk selbst gebe es nachweislich keine Verstöße, weshalb man da auch keine Reißleine zu ziehen habe.

Tja, die Frage ist schwierig. Was die Frage der Untersuchung der Zustände im Werk angeht, erlaube ich mir die Bemerkung: Die Chinesen sind ungemein geschickt darin, eine heile Welt vorzuführen oder überhaupt die Dinge zu beschönigen – und Beobachter hinters Licht zu führen. Deshalb kommt mir eine Haltung wie die von VW schon problematisch, wenn nicht sogar verwerflich vor. Demgegenüber stimmt aber auch: Der Abbruch von Wirtschaftsbeziehungen und Kontakten aller Art hilft ja auch niemandem. Es ist ein echtes Dilemma, das gebe ich zu.

Wie sehen die Perspektiven aus, sehen Sie ausschließlich schwarz?

Die Entwicklung ist ganz klar negativ. Die Uiguren werden unterdrückt, ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Religion. Und bei den Mongolen in China, also in der „Inneren Mongolei“ scheint so ein Mono-Ethnisierungsprojekt auch anzulaufen. Ein Kollege von mir wollte dort einen Vortrag halten und bekam erstmal gesagt, das Wort „Mongolen“ dürfe aber nicht vorkommen. Die Mongolen tun mir jetzt schon leid. Es sei denn, dass es in Peking irgendwann doch einmal einen Kurswechsel gibt. Man hat es in der Coronapolitik gesehen: Chinesische Politik kann auch sprunghaft sein und sich ruckartig verändern. Wir dürfen die Hoffnung natürlich nicht aufgeben.