Braunschweig. Der Strafrechtsexperte Burkhard Benecken erklärt, warum es immer wieder zu Fehlurteilen kommt – und nennt Beispiele von großen Justizskandalen.

Jahr für Jahr landen zahlreiche Menschen im Gefängnis, obwohl sie die ihnen vorgeworfenen Taten gar nicht begangen haben. Warum es an deutschen Gerichten auch heißt: „Im Zweifel gegen den Angeklagten“, beschreiben die beiden Strafverteidiger Burkhard Benecken und Hans Reinhardt in ihrem neuen Buch „Unschuldig verurteilt“. Schonungslos berichten sie aus ihrem beruflichen Alltag und gehen mit Polizei, Richtern und Staatsanwälten hart ins Gericht.

Im Podcast spricht Burkhard Benecken unter anderem über spektakuläre Justizirrtümer.

„Tatort Niedersachsen“: Unschuldig verurteilt – Strafverteidiger decken auf

1) Der Fall Jens Söring – 33 Jahre in US-Haft

Mehr als 33 Jahr saß Jens Söring in einem US-Gefängnis, verurteilt wegen Doppelmordes. Er behauptet: Ich habe die Tat nicht begangen.

Was war passiert?

Im April 1986 wird der Deutsche verhaftet, er ist 19 Jahre alt. Die Eltern seiner Freundin Elizabeth Haysom waren ungewöhnlich brutal ermordet worden; die Tochter und er geraten schnell in Verdacht. Der Diplomatensohn nimmt die Schuld auf sich, glaubt nach Deutschland ausgeliefert zu werden und will seine Freundin damit vor der Todesstrafe bewahren – so wird er es später erzählen. Doch nach seinem ersten Schuldeingeständnis rudert Söring zurück. Er erzählt nun: Die drogenkranke Elizabeth habe ihre verhassten Eltern selbst ermordet. Das Gericht glaubt ihm nicht mehr; 1990 wird er wegen Mordes zu zweimal lebenslanger Haft, Elizabeth Haysom zu zweimal 45 Jahren Haft wegen Anstiftung zum Mord verurteilt.

Jens Söring steht im Palmengarten in Frankfurt. Der in den USA wegen Doppelmordes verurteilte Ex-Häftling ist seit seiner Freilassung als Coach und Autor tätig.
Jens Söring steht im Palmengarten in Frankfurt. Der in den USA wegen Doppelmordes verurteilte Ex-Häftling ist seit seiner Freilassung als Coach und Autor tätig. © picture alliance/dpa | Boris Roessler

Aus der Haft heraus organisiert er einen großen Unterstützerkreis in den USA und in Deutschland, der an seine Unschuld glaubt. Es entstehen mehrere Dokumentationen, Zeitungsartikel sowie ein Kinofilm über seinen Fall. bis heute wird die Debatte um Schuld oder Unschuld Sörings hitzig geführt, verschiedene Untersuchungen von Rechtsexperten kommen jeweils zu unterschiedlichen Schlüssen.

Es gab ein entscheidendes Beweismittel, einen Sockenabdruck am Tatort. Den präsentierte der Rechtsmediziner im Gericht, weil der angeblich zu Jens Söring passen sollte. Später zeigte sich aber, dass er einen Zentimeter zu kurz war für seinen Fuß, DNA-Spuren am Tatort waren nicht seine. Im November 2019 wird Söring auf Bewährung entlassen und nach Deutschland abgeschoben. Hier ist er ein freier Mann – und verdient sein Geld als Coach und Autor. Strafverteidiger Burkhard Benecken berät Jens Söring anwaltlich, so entstand die Idee für das Buchprojekt.

2) Der Fall Rudolf Rupp – ein Verbrechen, das keines war

Der Fall des bayerischen Landwirts Rudi Rupp ist einer der bizarrsten Fälle in der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte. Er verschwindet am 13. Oktober 2001 spurlos nach einem Wirtshausbesuch, bei dem er sich betrunken hatte. In seinem Dorf wird getuschelt, seine Familie habe Rudi auf dem Gewissen.

Am 13. Mai 2005 verurteilt das Landgericht Ingolstadt Rupps Ehefrau, den Ex-Freud einer der Töchter und deren Schwester wegen gemeinschaftlichen Totschlags zu je achteinhalb Jahren Haft. Die Angeklagten hatten angegeben, ihn aus Rache erschlagen, zerstückelt und den Hofhunden zum Fraß vorgeworfen zu haben. Der Landwirt galt als Tyrann.

Das Auto, in dem die Leiche von Rudolf Rupp gefunden wurde, wird aus der Donau bei Bergheim (Oberbayern) gezogen (Archivfoto vom März 2009). Der mysteriöse Fall um den Tod des Landwirtes aus Neuburg an der Donau gilt als eines der spektakulärsten Justizirrtümer in Deutschland.
Das Auto, in dem die Leiche von Rudolf Rupp gefunden wurde, wird aus der Donau bei Bergheim (Oberbayern) gezogen (Archivfoto vom März 2009). Der mysteriöse Fall um den Tod des Landwirtes aus Neuburg an der Donau gilt als eines der spektakulärsten Justizirrtümer in Deutschland. © picture alliance / dpa | Winfried Rein

Das Urteil stützt sich ausschließlich auf die – später widerrufenden – Geständnisse der Angeklagten. Trotz intensiver Bemühungen der Ermittlungsbehörden waren keine forensischen Beweise für ihre Version des Tatgeschehens gefunden worden. Die Polizei soll die Angeklagten bei den Befragungen unter Druck gesetzt haben. Die Staatsanwaltschaft hatte das Gericht mit einer lückenlosen Version des Tatgeschehens überzeugen können.

Anfang März 2009 kommt dann die überraschende Wende in dem Fall: Die Polizei lässt einen schwarzen Mercedes E 230 bei Bergheim in Oberbayern aus der Donau heben. In dem Wagen liegt eine skelettierte Leiche. Der Tote ist Rudi Rupp. Untersuchungen ergeben, dass keine Verletzungen erkennbar sind, die auf ein Tötungsdelikt hindeuten würden. Dass der Tote erschlagen worden war, kann ausgeschlossen werden. 2010 kommt es zum Wiederaufnahmeverfahren. Im Februar 2011 werden alle Verurteilten – sie hatten mittlerweile zwei Drittel ihrer Freiheitsstrafen verbüßt und waren aus der Haft entlassen worden – freigesprochen. Wie die detaillierten falschen Geständnisse vor dem ersten Prozess zustande gekommen waren, wird juristisch nicht aufgearbeitet.

3) Der Fall Gustl Mollath - zu unrecht in der Psychiatrie

Der Fall gilt als einer der größten Skandale in der deutschen Justizgeschichte: Wegen angeblicher Gewalt gegen seine Ehefrau war Gustl Mollath 2006 in die Psychiatrie eingewiesen worden – zu Unrecht, wie sich Jahre später in einem Wiederaufnahmeverfahren herausstellt.

2001 behauptet seine Frau, von Mollath geschlagen, gebissen und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt worden zu sein. Auslöser des Streits sollen die illegalen Geldgeschäfte der Bankerin gewesen sein; ein Vorwurf, der sich später bestätigt. 2002 erstattet sie Anzeige gegen ihn. 2005 wird bekannt, dass Autoreifen und Pkw von Menschen beschädigt worden sind, die mit der Scheidung von seiner Frau im Zusammenhang stehen. Mollath wird dafür verantwortlich gemacht, aufgrund fehlender Beweise jedoch freigesprochen. Dennoch wird er wegen angeblicher Gemeingefährlichkeit in einer Psychiatrie untergebracht. Grundlage für diese Entscheidung sind unter anderem zweifelhaften Gutachten.

Gustl Mollath verbrachte sieben Jahre in der Psychiatrie – zu unrecht, wie sich später herausstellte.
Gustl Mollath verbrachte sieben Jahre in der Psychiatrie – zu unrecht, wie sich später herausstellte. © picture alliance/dpa | Peter Kneffel

Erst sieben Jahre später, nachdem der Fall neu aufgerollt und der Nürnberger Justiz mehrere Fehler nachgewiesen werden konnten, darf Gustl Mollath die Psychiatrie verlassen. In einem gerichtlichen Vergleich verpflichtet sich der Freistaat Bayern, Mollath Amtshaftungsansprüche in Höhe von 600.000 Euro zu zahlen.

Strafverteidiger Benecken führt den Fall Mollath an, um das Gutachter-System generell zu kritisieren. „Die Bezeichnungen sind nicht geschützt. Trotzdem ist die Einschätzung der vermeintlichen Experten nicht selten ausschlaggebend für die Frage von Schuld oder Unschuld“, sagt er. Grundsätzlich seien Gerichtsgutachten in vielen Fällen hilfreich, aber es gebe eine große Zahl von schwarzen Schafen unter den angeblichen Experten. „Deswegen fordern wir ein Güte-Siegel für alle Sachverständigen, die in einem Strafverfahren Expertisen abgeben.“

Das Interview mit Burkhard Benecken lesen Sie hier:

Unschuldig verurteilt - was ist, wenn die Jusitz irrt?