Suderburg. Auch das, was der Mensch ausscheidet, könnte Rückschlüsse auf die Pandemie geben. Ein Ostfalia-Projekt erforscht daher die Hildesheimer Kanalisation.

Zeit ist ein wichtiger Faktor im Kampf gegen Pandemien. Corona hat das immer wieder eindrücklich gezeigt. BundesgesundheitsministerKarl Lauterbach (SPD) setzt deshalb nicht nur auf eine zunehmende Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland, sondern auch auf die systematische und flächendeckende Analyse unseres Abwassers. An diesem, so die Hoffnung nicht nur des Epidemiologen Lauterbach, könne man frühzeitig pandemische Entwicklungen ablesen. Neben der Inzidenz und der Krankenbettenbelegung soll künftig das sogenannte Abwasser-Monitoring ein wichtiger Indikator dafür sein, ob Maßnahmen der Politik beibehalten, gelockert oder verschärft werden könnten.

EU-Hilfen für Forschungsprojekt

Ein solches Monitoring-Projekt treibt die Ostfalia-Hochschule in Zusammenarbeit mit der Leibniz-Universität in Hannover voran. Das passiert unter der Leitung von Ostfalia-Professor Markus Wallner, der am Standort in Suderburg an der Fakultät Bau-Wasser-Boden arbeitet, und Professorin Regina Nogueira, die an der Leibniz-Universität Hannover am Institut für Siedlungswirtschaft und Abfalltechnik forscht. Offizieller Titel des Projekts: „Ein quartiersscharfes Frühwarnsystem basierend auf Kanalnetzen zur Eindämmung von Epidemien“. Finanziert wird es vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) mit einer Fördersumme von fast 900.000 Euro.

Neben der Stadt Hildesheim als „Schwerpunktgebiet“ haben sich auch die Städte Uelzen und Celle bereit erklärt, die Erarbeitung einer Methodik durch die Forscher der Ostfalia und der Leibniz-Uni in Hannover zu begleiten. Städte und Gemeinden in der Region Braunschweig-Wolfsburg werden nicht als Kooperationspartner geführt. Die Laufzeit des Projekts ist zunächst bis Ende November 2022 angelegt.

Was beinhaltet das Projekt?

Regelmäßig entnehmen Mitarbeiter der Ostfalia und der Stadtentwässerung Hildesheim rund um die Stadt Hildesheim Abwasserproben. „Viele Infizierte scheiden Virenfragmente von Sars-CoV-2 aus, möglicherweise sogar bevor sie Symptome entwickeln. Auch die Teile der Bevölkerung, bei denen die Erkrankung asymptomatisch oder mit schwachen Symptomen verläuft, werden erfasst. Infektionsherde können daher unter Umständen deutlich schneller erkannt werden“, erklärt der Forscher die Hintergründe des Projekts.

Zur wissenschaftlichen Vorgehensweise sagt Wallner gegenüber unserer Zeitung: „Wir entnehmen im wöchentlichen Rhythmus Proben aus den Kläranlagenzuläufen Uelzen, Celle und Hildesheim sowie an 5 Standorten im Kanalnetz Hildesheim. Diese Abwasserproben werden dann im Labor aufbereitet und analysiert. Dazu gehört die Extraktion der RNA und die Analyse hinsichtlich Sars-CoV-2- spezifischer Gene mittels PCR. Parallel dazu messen wir auch weitere Standardparameter wie beispielsweise den pH-Wert im Wasser, um etwaige Einflüsse auf die RNA-Konzentration zu untersuchen.“ Bisher habe man sich vornehmlich mit der Datengenerierung beschäftigt. In den kommenden Monaten würde verstärkt die Datenauswertung anstehen.

Wallner verweist auf die Bedeutung der Entnahmeorte. Dabei sei ein breiter Standort-Mix wichtig. Hier müsste differenziert und strategisch vorgegangen werden, so Wallner. Als Beispiel nennt er das Durchleuchten des Abwassers in der Nähe eines Krankenhauses, in reinen Wohngebieten oder in Einzugsgebieten mit hohem Industrieaufkommen.

Was sind die Ziele?

Die Forscher wollen am Ende den Kommunen eine Art „Gebrauchsanweisung“ an die Hand geben. Sie wollen mit der Erstellung eines Maßnahmenkatalogs aufzeigen, wie mit möglichst geringem Aufwand das vorhandene Kanalnetz im Falle von Epidemien optimal als Frühwarnsystem genutzt werden kann. Ein wesentliches Forschungsziel wäre beispielsweise erreicht, sollten Viruslasten aus der Abwasseranalyse mit den gemeldeten Krankheitsfällen regionsspezifisch korrelieren oder Methoden bezüglich Frühwarnsystemen, beispielsweise in Form eines dreistufigen Ampelsystems, erstellt worden sein, formulieren die Wissenschaftler.

Bis dahin gäbe es laut den Forschern um Wallner aber noch viele Herausforderungen zu meistern. Der Nutzen für die Bürger sei heute noch nicht absehbar. „Momentan sind das noch Forschungsansätze. Allerdings können wir uns vorstellen, dass wir durch die Messungen unter Umständen Hotspots innerhalb von Städten schneller identifizieren können und dementsprechend lokal agieren können“, erläutert Wallner. Man stehe im ständigen Austausch über den Stand des Verfahrens nicht nur mit dem Gesundheitsamt in Hildesheim, sondern auch mit dem Landesgesundheitsamt (NLGA) in Hannover.

Das NLGA sieht sich in beratender Funktion, insbesondere als Ansprechpartner für die durchführende Behörde vor Ort, dem Gesundheitsamt in Hildesheim. „Das Interesse des NLGA an diesem regionalen Projekt basiert darauf, dass wir mehr Detailwissen zum Abwassermonitoring sammeln wollen, um so nicht nur zu infektionsepidemiologischen oder virologischen Aspekten – beispielsweise zu Fragen des Zusatznutzens – Stellung beziehen können, sondern auch zu Fragen der konkreten Methodik vor Ort zur Probengewinnung“, teilt das NLGA schriftlich mit. Mithin sei das Projekt an der Ostfalia nur ein „Mosaiksteinchen für die Gesamtbewertung des möglichen Gesamtprozesses“, ob ein flächendeckendes Abwassermonitoring tatsächlich als ein valides und nutzvolles Instrument angesehen werden könne. Diese Frage müsse am Ende jedoch bundesweit beantwortet werden, nicht zuletzt, da es einheitlicher Methoden sowie Parameter bedarf, heißt es aus Hannover.

Landesgesundheitsamt-Präsident: Brauchen noch mehr Klarheit

NLGA-Präsident Dr. Fabian Feil offenbart in seiner Stellungnahme gegenüber unserer Zeitung allerdings eine gewisse Skepsis von Teilen der Wissenschaft gegenüber sogenannten Abwasser-Screening-Projekten. Diese müsste zunächst widerlegt werden, formuliert er. Zudem sollten Verfahren standardisiert werden. Womöglich helfe hier das Projekt der Ostfalia, mehr Klarheit zu schaffen.

„Insbesondere aus dem Bereich Abwasserüberwachung werden Hoffnungen geweckt, dass das Abwassermonitoring als Überwachungsinstrument für Covid-19 geeignet sei. Aus Sicht der Epidemiologie wird es kritisch gesehen, inwiefern dies in Anbetracht von vielen Einflussfaktoren überhaupt möglich und besser geeignet ist als bereits bestehende Instrumente (...). Gerade im Hinblick auf die bestehenden Unsicherheiten benötigen wir dringend die daraus gewonnenen Erkenntnisse, bevor überhaupt an einen Routinebetrieb gedacht werden kann“, so Feil.

„Hotspot“-Erkennung schwierig

Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) erklärt gegenüber unserer Zeitung: Mit der abwasserbasierten Überwachung von Sars-CoV-2 könnten vor allem mit Hilfe von Trendanalysen zusätzliche Daten zur Dynamik des pandemischen Geschehens generiert werden. „Diese Daten sind von der Teststrategie und dem Testverhalten der Bevölkerung unabhängig. Letzteres ist ein relevanter Faktor, da sich das Testverhalten der Bevölkerung verändert hat. Ein Teil der positiv getesteten Menschen hat das Ergebnis durch einen Selbsttest zu Hause erfahren und auf einen Bestätigungstest beim Arzt verzichtet. Für die Erkennung von Hotspots ist eine sehr detaillierte und aufwändige Probenahme im Kanalsystem notwendig. Dies ist in vielen Großstädten nicht realisierbar, sondern bietet sich in eher ländlichen Regionen an“, teilt Hanno Kautz, Leiter der Stabsstelle Kommunikation im BMG, mit.

Insgesamt würden laut Kautz vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) aktuell vier Verbundprojekte zur Thematik „Sars-CoV-2-Abwassermonitoring“ gefördert. Dafür stünden
5,8 Millionen Euro für 24 Standorte zur Verfügung. Auch EU-Mittel in Höhe von von 3,7 Millionen Euro würde 20 Standorten zugutekommen, erklärt Lauterbachs Sprecher.

Untersuchung auf Oktoberfest

Zuletzt war beispielsweise das Abwasser rund um das Gelände des Münchener Oktoberfestes durch ein Abwasser-Screening-Projekt auf Bestandteile des Coronavirus untersucht worden. Eine abschließende Bewertung steht aber noch aus. Doch schon während der Wiesn hatte Andreas Wieser, Leiter der Abteilung für Infektions-und Tropenmedizin am LMU Klinikum München, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur erklärt: „Wir sehen schon, dass da ordentlich was los ist.“ Dennoch bestünden im konkreten Fall auch Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Werte. Diese seien durch verschiedene Faktoren leicht beeinflussbar. Einer sei die starke Verdünnung des Abwassers rund um die Theresienwiese. „Grund für die andere Konzentration sind sehr viel Spülwasser und eine vorwiegende Abgabe von Urin – und nicht Stuhl.“ Auch viel Regen habe Auswirkungen auf entnommene Proben und Werte gehabt, so Wieser gegenüber der dpa.

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