Braunschweig. Hat Deutschland einen Wirtschaftskrieg gegen Russland „vom Zaun gebrochen“? Die Linkspartei ringt um Sahra Wagenknecht. Die steht nicht allein da.

Christian Roelle ist Geograf im Ruhestand. Roelle (67) lebt in Braunschweig. Und saß mit ein paar Bekannten beim Bier. So weit, so unspektakulär. Doch die Idee, die er an diesem Abend hatte, hat sich lebhaft entwickelt. Die Idee war der Start einer Online-Petition. Motto: „Ich finde die Rede von Sahra Wagenknecht gut.“ Das Credo: Ganz viele Linke stehen hinter der meinungsfreudigen Politikerin. Der Appell: Das Auseinanderbrechen der Partei muss verhindert werden, indem sich alle zusammenreißen und sich dafür einsetzen, die Linke in ihrer Rolle als „kraftvolle Opposition“ zu unterstützen.

„Ich kannte diese Petitions-Plattform zunächst gar nicht“, gab Roelle im Gespräch mit unserer Zeitung zu, „aber es ist bei so einer wichtigen Frage doch interessant, mal zu erfahren, was die Basis wirklich denkt.“ Zu dieser Basis fühlt sich Roelle unbedingt zugehörig. Der Ehemann der ehemaligen Landtagsabgeordneten und aktuellen Linken-Kandidatin Ursula Weisser-Roelle (die sich der Petition auch angeschlossen hat) ist Mitglied im Braunschweiger Linken-Vorstand. Im Gespräch betonte er mehrfach, dass er den Krieg Russlands „aufs Schärfste“ verurteile, kam dann aber schnell auch auf „Drohungen der Nato“ und einzelne, aus seiner Sicht kategorisch antirussische Formulierungen Joe Bidens und Annalena Baerbocks zu sprechen.

Wie „die Basis“ im Detail die Sache sieht, weiß man eigentlich auch jetzt noch nicht – zumal auch Nicht-Mitglieder der Linkspartei die Petition unterstützen können. Doch dass dies bald mehr als 11.500 Menschen taten, ist schon erheblich. Zur Einordnung: Die Linke hatte Ende vorigen Jahres bundesweit 60.000 Mitglieder. „Ich habe mich sehr über die Resonanz gefreut. Total viele stehen hinter Sahra“, sagte Roelle und fügte selbstbewusst hinzu, dass die von ihm initiierte Petition „sicherlich einen erheblichen Teil zu dieser Deeskalation beigetragen“ habe, die am Dienstagabend aus Berlin gemeldet wurde.

Die Wagenknecht-Rede am 8. September

Doch vor der – nur vorläufigen? – Deeskalation muss von dem Stein des Anstoßes die Rede sein. Es ging diesmal nicht um Corona, Migration oder „Lifestyle-Linke“. Sondern um den Krieg. Im Bundestag hatte Wagenknecht am 8. September der Bundesregierung mit Blick auf Russland vorgeworfen, „einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun zu brechen“. Ihre Forderung: ein Stopp der Wirtschaftssanktionen.

Auch intern gab es nach dieser Rede jede Menge Ärger. Der neue Parteichef Martin Schirdewan distanzierte sich. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, verließ die Partei ebenso wie der Finanzexperte Fabio De Masi. Mehrere Landesvorsitzende kritisierten die „Ursachen-Wirkungs-Umkehr“ in der bewussten Rede und Formulierungen, „die sogar abseitigen Interpretationen der Wirklichkeit eine Bühne bieten“ würden. Als Beleg für die konträren Positionen wie für das Temperament der Debatte seien hier zwei Leserbriefe an unsere Zeitung zitiert: „Sahra Wagenknecht mag gegen den Strom schwimmen, aber weshalb ist es nicht möglich, in der Sache einfach mal zuzuhören und lösungsorientiert zu argumentieren?“, hieß es in dem einen. Und in dem anderen: „Wagenknecht will nicht nur ihre Partei sprengen, sondern auch das deutsche Volk! Dabei nimmt sie skrupellos in Kauf, auch den rechten und radikalen Rand zu bedienen! Damit hat sie sich als Linke endgültig disqualifiziert!“

In Berlin spitzte sich die Lage zu: Acht Bundestagsabgeordnete stellten den Antrag, solche Wagenknecht-Auftritte künftig zu verhindern und Abgeordnete auf die Beschlüsse der Partei zu verpflichten.

Aber was würde aus so einer Maßregelung resultieren? Brisant wäre die Abspaltung des Wagenknecht-Lagers nicht nur wegen der Popularität der talkshowgestählten Rednerin, sondern auch deshalb, weil so ein Bruch den wackeligen Fraktionsstatus im Bundestag gefährden würde. Die Fraktionsspitze um Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali, die Wagenknechts Rede ermöglicht hatte, servierte einen letztlich erfolgreichen, allgemein appellativen Kompromissvorschlag, in dem die 53--Jährige ungenannt blieb. Und entsprechend weich sind nun die mit der „Deeskalation“ verbundenen Formulierungen. „Es ist zumindest heute sehr klar geworden, dass diese Partei, diese Fraktion zusammenbleiben will“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer Jan Korte. Und Ex-Parteichef Bernd Riexinger, einer der acht Antragsteller, sagte, man habe „eine ganz gute Grundlage für die Fraktionsarbeit gefunden“.

Sind die linken Lager gleich groß?

In diesem Sinne rissen sich am Mittwoch die Linken nicht gerade darum, mit kernigen Aussagen zitiert zu werden. „Frau Mohamed Ali wird sich nicht dazu äußern“, hieß es auf Anfrage aus dem Büro der Fraktionsvorsitzenden aus Oldenburg. Der Bundestagsabgeordnete Victor Perli betonte lediglich allgemein, die Linke sei eine „kraftvolle Opposition“ gegen die „desaströse Krisenpolitik“ – merkte immerhin jedoch an, die Roelle-Petition sei in der Berliner Fraktionssitzung mehrfach erwähnt worden.

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Offener ging schon am Dienstag Pia Zimmermann, die von 2013 bis 2021 den Wahlkreis Helmstedt-Wolfsburg für die Linke im Bundestag vertrat, mit der kritischen Situation um. „Ich habe die Petition auch unterschrieben“, sagte sie unserer Zeitung. Sie habe sich darüber geärgert, dass Sahra Wagenknecht „Dinge unterstellt“ würden, die sie als hochintelligente Frau niemals so gemeint habe. „Wie soll diese herzenswarme, kämpferische Linke das aushalten?“, fragte Pia Zimmermann. Allerdings sagte sie zu ihrer Wahrnehmung des Stimmungsbildes auch, dass sie die Pro-und-Contra-Wagenknecht-Lager auf jeweils 50 Prozent der Partei einschätzen würde. Das wiederum klingt trotz aller Deeskalationsversuche nicht so sehr nach ruhigem Fahrwasser und klarer Linie. Dabei könnte die Partei einen Ruck derzeit ganz gut gebrauchen: Laut „Niedersachsen-Check“ liegt sie mit Blick auf die Landtagswahl am 9. Oktober bei gerade mal drei Prozent.

Der Text der Petition

Ich finde die Rede von Sahra Wagenknecht gut! Sie hat den verbrecherischen Ukraine-Krieg klar verurteilt, nicht verharmlost! Ich bin für eine starke Linke. Ich bin für eine kraftvolle soziale Opposition gegen die Verarmungspolitik der Ampelkoalition. Wir danken der Fraktion Die Linke, dass Sahra Wagenknecht gegen die unsoziale Politik von Wirtschaftsminister Habeck reden durfte! Die Linke muss in diesen Zeiten kraftvolle linke Opposition sein, keine angepasste! Reißt euch zusammen und kämpft für uns!

Begründung

Wir sind Menschen, die ein großes Interesse an einer starken Partei Die Linke haben. Wir wollen zeigen, dass viele Linke hinter Sahra Wagenknecht stehen. Sie ist eine der bekanntesten Abgeordneten der Partei Die Linke, sie kann linke Politik gut erklären und kraftvoll die Regierung attackieren. Deshalb wird sie über die Medien angegriffen. So wie nach der Rede am 8. September 2022 im Bundestag: Wir laden euch und Sie ein, diese Petition an die Parteispitze und an die Bundestagsfraktion zu unterstützen.

Vielen Dank für Ihre Unterstützung, Christian Roelle
aus Braunschweig