Braunschweig. Im Braunschweiger Land leben fast 9.000 Ukrainer, die vor dem Krieg flohen. Viele von ihnen haben Traumatisches erlebt. Helfer stoßen an ihre Grenzen.

Heulende Sirenen, düstere Keller. Tod. Zerstörung. Gewalt. Hunger. Der Verlust der Heimat und des Gefühls von Sicherheit. Was Kriegsvertriebene aus der Ukraine erlebt, gesehen und gehört haben, brennt sich in die Seele ein. Sie haben Traumatisches hinter sich. Wenn sie in Deutschland ankommen in der Braunschweiger Stadthalle, „sind sie erst einmal wie erstarrt, ihre Blicke wie eingefroren“, sagt Sozialarbeiterin Tanja Makarchuk, 54. „Ich sehe es ihnen sofort an.“

Allein in Braunschweig hat man seit Kriegsbeginn im Februar rund 2.000 geflüchtete Ukrainer registriert. Offizielle Zahlen des niedersächsischen Innenministeriums von Ende April legen nahe, dass es in der Region zwischen Harz und Heide mehr als 8800 Vertriebene leben – die tatsächliche Zahl dürfte noch höher liegen.

Diese Menschen brauchen Hilfe – auch psychologische. „Das war uns schon mit Beginn des Krieges klar“, sagte Tanja Makarchuk. Der Verein Freie Ukraine Braunschweig, den sie vor sieben Jahren mitgründete, versucht, diese Hilfe zu leisten. „Denn die Behörden sind damit überfordert – und Therapieplätze gibt es bei weitem nicht genug.“ Zumal die Therapeuten auch der ukrainischen oder russischen Sprache mächtig sein müssten. Was die Zahl weiter reduziert.

Tanja Makarchuk (54) stammt aus der Region Kiew. Sie ist Mitgründerin des Vereins Freie Ukraine Braunschweig. 
Tanja Makarchuk (54) stammt aus der Region Kiew. Sie ist Mitgründerin des Vereins Freie Ukraine Braunschweig.  © Funke | Erik Westermann

Glücklicherweise verfügt der Verein bereits über Erfahrungen: Wenn man in diesem Fall von Glück sprechen mag. Seit dem russischen Angriff auf die Krim im Jahr 2014 brachten Makarchuk und die Wolfsburger Psychologin Olga Olijnik das Wissen über eine niedrigschwellige Form der Therapie in die Ukraine.

„Viele Menschen sind zum zweiten Mal geflohen“

Gemeinsam mit dem Verein für systemische Psychotherapie in Lwiw und gefördert vom Centrum für Internationale Migration (CIM) organisierten sie Weiterbildungen zur traumatherapeutischen Beratung nach dem „Konzept Integrativer Methodik“ (KIM). „Bei fast zwei Millionen Binnenflüchtlingen aus dem Osten der Ukraine war schon damals der Bedarf riesig.“

Was 2022 geschah, „damit haben wir aber nicht gerechnet“, sagt Tanja Makarchuk. Das Ausmaß der Herausforderung hat sich potenziert. Etwa ein Dutzend PsychologInnen und andere Helfer aus sozialen Berufen stehen bereit, um Hilfe zu leisten. Alle engagieren sich ehrenamtlich, neben ihren Brotberufen.

Die Not ist akut. „Viele Menschen sind zum zweiten Mal geflohen“, berichtet Makarchuk. Zum ersten Mal 2014 von der Krim oder aus dem Donbass, nun vor dem umso größeren Angriff der russischen Armee.

Offiziell registrierte Ukraine-Flüchtlinge in der Region Braunschweig-Wolfsburg (Stand Ende April)
Offiziell registrierte Ukraine-Flüchtlinge in der Region Braunschweig-Wolfsburg (Stand Ende April) © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Makarchuk berichtet von drohenden Suiziden, von Depressionen, Angstattacken. Da ist der Junge, der vom Tod seines besten Freundes in der Heimat hört – und es nun kaum mehr aus dem Haus schafft. Da sind Frauen und Kinder, die am Telefon davon erfahren, dass der Vater, Sohn oder Bruder von einer Rakete zerrissen wurde.

Da ist die Frau, die sich um sieben Kinder kümmert, von denen nur wenige ihr eigenen sind. Der verwundete ukrainische Soldat in einem Krankenhaus in Charkiw, der nicht mehr laufen kann. Bei Bombenangriffen muss er in seinem Bett liegen und hoffen, dass der Sturm vorüberzieht.

In seinen dunkelsten Stunden telefoniert er mit einer ukrainischen Psychologin, die aus Luhansk in die Region Braunschweig floh. „Sie versucht ihn zu stabilisieren“, berichtet Makarchuk – die Herausforderungen, denen die Freiwilligen entgegentreten.

Das KIM-Konzept arbeitet mit Bildern, sagt Makarchuk. So erreiche man auch Menschen mit Einschränkungen. „Und vor allem kann man sie nicht retraumatisiseren.“

Auch denjenigen, die schon länger hier leben, frisst sich der Krieg in die Seele. „Sekundäre Traumatisierung“ nennt man das. Ein solches Trauma erleben derzeit viele Ukrainer, die bereits vor Jahren nach Deutschland zogen. Zu schlimm sind die Bilder aus der alten Heimat.

Makarchuk schläft selbst kaum mehr ruhig, seitdem der Krieg in ihrer Heimat eskaliert. Sie stammt aus der Region Kyiw. Die Toten von Butscha – dem Ort, der zum Synonym für die Gräuel des Krieges wurde – waren Bekannte, Nachbarn, Freunde. Die Bilder von dort lassen sie nicht los. An manchen Tagen helfen auch Beruhigungsmittel nicht. „Die Soldaten dort benehmen sich schlimmer als Tiere.“

Schulungen für geflüchtete Mütter – um ihnen und ihren Kindern zu helfen

Tanja Makarchuk lebt seit 2014 in Deutschland. Die zugewandte, warmherzige Frau wollte einmal Astrophysikern werden – doch das Leben lenkte ihren Blick von den Sternen auf irdische Probleme: Die UdSSR brach zusammen. Die Mutter zweier Söhne passte sich an.

Heute arbeitet die Fachfrau für angewandte Linguistik, diplomierte Übersetzerin und Textil-Technologin als Sozialarbeiterin mit Zusatzqualifikation in psycho-sozialer Beratung.

Traumahilfe

Helfer, Unterstützer und Menschen mit Ideen für weitere Hilfsangebote können sich bei Tanja Makarchuk und Kolleginnen melden unter:
seele@freieukraine-braunschweig.de. Die Homepage des Vereins: https://freieukraine-braunschweig.de/. Details zur KIM-Methode: www.konzept-integrativer-methodik.de.

Der Begriff „Trauma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Wunde“. Er bezeichnet eine seelische oder emotionale Verletzung, ausgelöst durch überwältigende Ereignisse – Gewalttaten, Kriege oder Katastrophen –, bei denen das eigene Leben oder das nahestehender Personen bedroht ist. Für Körper und Seele bedeuten diese Ausnahmesituationen enormen Stress.

40 bis 60 Prozent der Geflüchteten leiden einer Studie zufolge unter den Folgen traumatisierender Erlebnisse.

In Deutschland betreut sie bei der Lebenshilfe Menschen mit Beeinträchtigungen. Jede freie Minute widmet sie und ihre Familie der Unterstützung ihrer Landsleute. „Trotzdem bleiben immer Schuldgefühle, egal, wie viel man tut. Wenn ich unser Haus geben könnte, um Leben zu retten, ich würde es tun. Mein Herz ist in der Ukraine.“

Im nächsten Schritt wollen die Gruppe und der Verein Schulungen anbieten für aus der Ukraine geflüchtete Mütter – damit sie erst sich selbst und dann ihren Kindern helfen können. „Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe – sonst ist das nicht zu leisten.“ Besonders träfe es ältere Kinder und Jugendliche, die viel mehr begreifen, was sie verlieren.

Für die Betreuung Traumatisierter braucht es Psychologinnen und Muttersprachler

Um arbeiten zu können, brauche man Freiwillige, sagt Makarchuk - und weitere Unterstützer. Dolmetscher, Fachkräfte mit Sprachkenntnissen, Menschen aus sozialen, helfenden Berufen, Freiwillige, die sich bereit erklären, Kindern und Jugendlichen mit Einschränkungen beizustehen.

Derzeit schult man einige freiwillige ukrainische Psychologinnen in der deutschen Sprache – „das benötigen sie, um mit Behörden und Kollegen zusammenzuarbeiten“. Wenn sich Menschen fänden, die sie beim Deutsch lernen unterstützen, wäre das eine große Hilfe, sagt Makarchuk.

Denn an vielen Stellen geraten die wenigen Aktiven des Vereins Freie Ukraine bei ihrer Arbeit für die Kriegsvertriebenen an Grenzen. Tanja Makarchuk hat bereits jetzt große Teile ihres Jahresurlaub geopfert – aber selbst wenn die Tage 48 Stunde hätten: Es würde nicht reichen. „Es gibt so viel zu tun.“

Hier lesen Sie die neue Kolumne von Tanja Makarchuk, in der sie künftig 14-tägig von ihren Erlebnissen berichtet.