Braunschweig. Warum unterscheiden sich ab und an die Corona-Zahlen der Bundesbehörde von denen der Kommunen? Der Hauptgrund ist der Meldeschluss.

Einige Leser unserer Zeitung wundern sich, dass sich die täglichen Angaben zu Corona-Neuinfektionen, Toten oder Inzidenzen innerhalb einer Ausgabe unterscheiden. Sie schrieben uns deshalb. Maßgeblich und damit rechtlich bindend für die Maßnahmen, die seit dem 24. April in der Notbremse des Bundes geregelt sind, sind die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI). Diese veröffentlichen wir besonders prominent und daher in der Regel auf unserer Titelseite. Der Bund setzt über das novellierte Infektionsschutzgesetz Länderrecht ab einer Inzidenz von über 100 in den Kreisen und kreisfreien Städten außer Kraft.

Warum die Zahlen an einigen Tagen zwischen denen des RKI und denen der kommunalen Behörden derart schwanken, ist selbst Mandatsträgern mitunter schleierhaft. Wir versuchen an dieser Stelle, den Grund für Abweichungen zu erklären und so ein wenig Übersicht in diesen „Zahlen“-Salat zu bringen.

Der Ärger im Landkreis Goslar

Am 29. April erreichte auch diese Redaktion eine E-Mail mit der Pressemitteilung des Landrats des Kreises Goslar, Thomas Brych (SPD). Darin beschreibt Brych das aus seiner Sicht „tägliche Verwirrspiel um die richtige Zahl“. Die divergierenden Zahlen von RKI und seiner kommunalen Behörde und die Veröffentlichung beider Datensätze ließen die Drähte des Bürgertelefons des Landkreises heißlaufen. Er, so Brych, könne den Unmut in der Bevölkerung gut nachvollziehen, denn auch er selbst sei die ewige Debatte über den richtigen Inzidenzwert inzwischen leid. „Noch immer haben wir leider keine erschöpfende Auskunft erhalten, warum entweder das Niedersächsische Landesgesundheitsamt oder eben das RKI anderslautende Inzidenzwerte veröffentlichen als wir. Die von unserem Gesundheitsamt berechnete Inzidenz ist die richtige. Und eigentlich dürften auch das Land und das RKI keine grundlegend anderen Werte ermitteln, da sie die Zahlen zum Infektionsgeschehen von uns erhalten. Ein möglicher zeitlicher Verzug bei der Meldung dürfte kleinere Ungenauigkeiten erklären, darf aber nicht als Erklärung für Differenzen im Zehnerbereich herangezogen werden“, erklärt der Landrat Thomas Brych. Der Inzidenzwert berechnet sich aus den gemeldeten Neuinfektionen innerhalb von sieben Tagen gemessen auf 100.000 Einwohner.

Einige Tage später ist nach Angaben von Kreissprecher Maximilian Strache der Ärger des Landrats schon etwas verflogen. Strache nennt als Auslöser gegenüber unserer Zeitung das Wochenende 24./25. April. Hier hätten weitergeleitete Angaben des Landkreises nicht den Weg zum RKI nach Berlin gefunden. „Wir ermitteln auch am Wochenende die Zahlen. An diesem haben wir für unseren Kreis 25 beziehungsweise 26 neue Fälle erhoben, die sich nicht in den Statistiken des nächsten Tages wiederfanden. Am Ende gab es einen Unterschied von fast 20 Inzidenzpunkten“, schildert Strache die Situation. Mittlerweile habe man sich darüber auch mit dem RKI ausgetauscht. Dort habe man sich nicht erklären können, warum die Datensätze nicht berücksichtigt wurden. „Es hat sich um einen absoluten Ausreißer nach oben gehandelt“, bestätigt der Kreissprecher. Als Beleg dafür nennt Strache den Unterschied an einem Meldetag wenig später. „Hier lag die Differenz bei der Inzidenz zwischen RKI und dem Landkreis bei 0,1. Das ist ja fast eine Punktlandung.“

Hamburg vertraut den eigenen Zahlen – die sind eher höher

Auch Landrat Brych stellt in seiner Pressemitteilung von Ende April nochmal klar, an welche Angaben sich die Bürger im Zweifel halten müssen. „Entscheidend ist jedoch, dass nach neuester Gesetzgebung nur der vom RKI gemeldete Wert rechtliche Folgen auslöst. Für das Auslösen der Notbremse ist es daher vollkommen egal, ob wir eine Inzidenz von 100 berechnen. Erst, wenn das RKI an drei aufeinanderfolgenden Tagen eine Inzidenz von über 100 ausweist, müssen wir die Corona-Regeln entsprechend des Infektionsschutzgesetzes verschärfen.“ Diese Vorgehensweise habe man sich nicht ausgedacht, müsse aber genau wie alle anderen auch mit dieser „unbefriedigenden Situation umgehen“.

Die aus Brychs Sicht „unbefriedigende“ Situation, würde sein Parteifreund in Hamburg, der Erste Bürgermeister der Stadt Peter Tschentscher, wohl teilen. Der SPD-Politiker sieht die Corona-Zahlen der Behörden in der Hansestadt als maßgeblich an, nicht die des RKI. Das erklärte er zuletzt in der ZDF-Sendung von Maybrit Illner. Allerdings dreht ihm der Bund daraus keinen Strick, denn Tschentscher steht für einen Weg, der strenger ist als der, den der Bund vorgibt. So gilt an der Alster ein Lockdown und eine ab 21 Uhr geltende Ausgangssperre seit Ostern – auch heute noch, obwohl die Stadt laut RKI seit Tagen unter 100 liegt. Tschentschers Behörden wiesen allerdings stets höhere Zahlen aus. Auch deshalb herrscht hier weiter das Prinzip Vorsicht. Bis zum 21. Mai sollen die Maßnahmen bestehen. Tschentscher begründet das unter anderem mit der Größe der Stadt und den Hunderttausenden von Ein- und Auspendlern täglich.

So könnten Differenzen entstehen

Auch wenn sich die Zuständigkeiten bei der Rechtssprechung ab einer Inzidenz von 100 seit dem 24. April geändert haben, bleibt das Infektionsschutzgesetz den Richtlinien beim Meldeweg einer Corona-Infektion treu. Erfährt das kommunale Gesundheitsamt von einer durch einen PZR-Test bestätigten neuen Infektion, wird dieser Fall als „offizielle Meldung“ dem niedersächsischen Landesgesundheitsamt (NLGA) angezeigt. Das wiederum ist verpflichtet, dem RKI diese anonymisierten Daten weiterzuleiten. Der Meldeschluss des NLGA ist nachmittags, 16 Uhr. Alle danach angezeigten Fälle der Gesundheitsämter finden an diesem Tag keine Berücksichtigung in den RKI-Statistiken und fließen erst für den übernächsten Tag ein. Die so bundesweit zusammengetragenen Zahlen werden von der Behörde mit Datenstand 0 Uhr veröffentlicht. Meistens erfolgt eine finale Aktualisierung der Daten in den frühen Morgenstunden, am 6. Mai beispielsweise um 03:09 Uhr.

RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher verweist im Gespräch mit unserer Zeitung darauf, dass auf dem täglich aktualisierten Dashboard der Behörde (www.rki.de) nicht nur die Infektionszahlen für alle Kreise und kreisfreien Städte aufgelistet werden, sondern in einer Grafik ebenfalls dargestellt wird, wann die Fälle gemeldet wurden, also auch verzögert eingetroffenen Fälle transparent gemacht würden. Glasmacher: „Wir sehen, dass sich die Zahlen eines Tages etwa zu drei Vierteln aus den gemeldeten Fällen des Vortages, aber mindestens zu einem Viertel aus Meldedaten des Vor-Vor-Tages zusammensetzen.“ Am Wochenende gäbe es eine erschwerte Situation, da die Weitergabe der Daten mancherorts nicht gewährleistet werden könne, so Glasmacher. Anderswo, wie im erwähnten Kreis Goslar, werden die Fallzahlen auch am Samstag und Sonntag weitergeleitet.

So reagiert der Landkreis Peine

Der Kreis Peine, der seit Monaten eine Inzidenz von über 100 vorweist, hat aus der geänderten Richtlinienkompetenz zugunsten des Bundes Konsequenzen gezogen und sein Meldeverhalten geändert. Man sei dazu übergegangen, die Zahl der Neuinfektionen nicht mehr erst zwischen 18 und 19 Uhr, sondern schon um circa 15.15 Uhr dem NLGA zu melden. Man verzichte für den Tag damit zwar auf Vollständigkeit. Man sei so aber auf der sicheren Seite, dass der Inzidenzwert, den das RKI für den Kreis erhebt, laufend aktuell und auf einheitlicher Grundlage errechnet worden sei, erklärt Sprecher Fabian Laaß. Der Kreis veröffentlicht auf Facebook zwar einmal am Tag ein Corona-Update, verzichtet aber darauf Inzidenzen auszuweisen. Ein Link auf die Seite des NLGA ist zwar gesetzt. Klickt man diesen an, öffnet sich eine Liste, deren Angaben denen des RKI gleichen. Auch die Stadt Braunschweig beruft sich nur noch auf die RKI-Angaben. Sie verzichtet daher darauf, eigene Zahlen gesondert auszuweisen.

Dass die Inzidenzwerte voneinander abweichen, weil RKI und Kommunen von einem anderen Erhebungstand bei den Einwohnermeldezahlen ausgehen, wird in Goslar und Peine als „nachrangig“ betrachtet. Auf unter ein Prozent Abweichung beziffert Peines Kreissprecher Laaß diesen Effekt.

Landesbehörde verweist auf RKI: Wollen keine Verwirrung schaffen

Auch beim Landesgesundheitsamt in Hannover will man keine zusätzliche Verwirrung bei den Bürgern und Bürgerinnen auslösen. So wird man auf dessen Homepage, will man sich über die Corona-Lage in Niedersachsen informieren, mit dem Hinweis der jetzt geltenden Zuständigkeiten unausweichlich auf das Dashboard des RKI weitergeleitet. Der Sprecher des Landesgesundheitsamtes, Mike Wonsikiewicz, verteidigt das Meldeverfahren. „Man kann hier ja nicht von richtig oder falschen, schlechten oder guten Zahlen reden, sondern die verschiedenen Angaben sind Ausdruck des zu diesem Zeitpunkt übermittelten Datenstandes“, sagt Wonsikiewicz. Man habe als Landesbehörde weiterhin die im Infektionsschutzgesetz hinterlegte Berechtigung, Daten aus den Gesundheitsämtern hinsichtlich ihrer Plausibilität zu prüfen. „Wir müssen schauen, ob die Qualitätsstandards, die das RKI ansetzt, auch von den Ämtern vor Ort eingehalten werden“, erklärt der NLGA-Sprecher. Er widerspricht nicht, dass es dadurch im Einzelfall auch zu zeitlichen Verzögerungen käme. Er sagt aber auch: „Wenn wir richtig verlässliche Daten haben wollen, müssen wir prüfen, wie sie zustande gekommen sind.“

NLGA: Es gibt Gründe für Verzögerungen

Wonsikiewicz nennt ein Beispiel: „Wenn ein Krankenhaus, sagen wir in Aurich, eine Infektion dem dortigen Gesundheitsamt meldet, kommt es vor, dass dieser Fall dort in die Datenbank eingegeben wird. Wenn danach aber erst festgestellt wird, dass der Patient in Emden wohnt, ist es möglich, dass diese Meldung zweimal für ein und dieselbe Person gemacht wird. Dass zu überprüfen, ist Aufgabe unserer Spezialisten.“ Im vergangenen Sommer, als die Infektionszahlen auf einem sehr niedrigen Niveau lagen, sei es des Öfteren vorgekommen, dass Kommunen beispielsweise mit einer „-1“ bei ihren Fallzahlen ausgewiesen worden seien. „Hier hatten wir den Fall überprüft und mussten ihn am Ende einer anderen Kommune zuschreiben, die dann eine zusätzliche Infektion aufwies“, erklärt der Behördensprecher.

Auch könne es theoretisch vorkommen, dass dem Gesundheitsamt eine Infektion innerhalb eines Drei-Personen-Haushaltes gemeldet wird. Mutmaßlich, so die Erfahrung, steckten sich auch die anderen Personen desselben Haushalts mit Covid-19 an. „Mutmaßlich reicht aber nicht. Es dürfen nicht drei Personen als Neuinfektionen gemeldet werden, bevor nicht das Testergebnis aller Personen vorliegt.“ Dieser Fall sei eher hypothetisch. „Aber zu überwachen, dass das nicht passiert, ist dann auch Aufgabe des NLGA.“

Auch die RKI-Sprecherin Glasmacher verweist auf verschiedene Gründe, warum es zu abweichenden Inzidenzzahlen kommen kann. „Es kann sein, dass Fälle versehentlich im Gesundheitsamt mehrfach angelegt werden. Registriert wird das mitunter zu spät, so dass die Korrektur erst am Folgetag in die Datenbank des RKI eingespeist werden kann.“

Vorwurf: Stille-Post-Spiel

Seit Beginn der Pandemie monieren Politiker, Ärzte in den Gesundheitsämtern und Experten die „steinzeitähnlichen“ Methoden, mit denen in Deutschland die Meldungen über Corona-Infektionen weitergeleitet werden. So ist die Übertragung per Fax in vielen Behörden eher Regel als Ausnahme, der Grad an Digitalisierung in den Ämtern überschaubar. Warum mit der „Bundes“-Notbremse nicht auch das Meldeverfahren geändert worden ist, dazu will sich das RKI nicht äußern. Es spricht von einer politischen Entscheidung, dass weiterhin die Landesbehörden die Daten in einem Zwischenschritt einsehen können. Zu beschleunigten Verfahren, Verlässlichkeit und Verständnis bei den Menschen habe das nicht geführt, heißt es aus den Kommunen. Den Sprecher des Landkreises Goslar, Maximilian Strache, erinnert das alles an das „Stille-Post-Spiel“, bei dem die Ursprungsbotschaft eine andere sei, als die, die ausgesendet worden war.

RKI-Sprecherin Glasmacher widerspricht. Entscheidend sei im Kampf gegen die Pandemie nicht die kurze zeitliche Verzögerung bei der Datenübertragung, sondern das konsequente Handeln der Kommunen vor Ort. „Die Notbremse verbietet Kreisen und Städten nicht, frühzeitig auf negative Entwicklungen zu reagieren.“ Um einen schärferen Kurs zu fahren, müsse man nicht auf den Inzidenzwert des RKI warten.

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