Braunschweig. Die Hausärzte kämpfen mit enormem Misstrauen gegenüber dem Vakzin. Noch immer lehnen viele Patienten den Impfstoff ab.

Eine Impfung gegen das Coronavirus zu erhalten, ist für viele immer noch ein riesiges Glück. Rund eine halbe Million Menschen stehen in Niedersachsen auf der Warteliste. Umso mehr ärgert es Dr. Carsten Gieseking, wenn Patienten kurzfristig einen Rückzieher machen – nicht, weil sie plötzlich nicht mehr geimpft werden wollen, sondern weil ihnen der angebotene Stoff nicht passt. Astrazeneca? Da blockt so mancher ab und spekuliert lieber auf eine Dosis von Biontech. „Die Skepsis gegenüber Astrazeneca ist immer noch groß“, sagt der Allgemeinmediziner aus Müden und Vorsitzender des Hausärzteverbands in der Region Braunschweig. Einige Patienten seien wegen der berichteten Fälle von Sinusvenusthrombosen bei jungen Menschen verunsichert. Das bekämen die Kolleginnen und Kollegen in vielen Praxen zu spüren.

Auch Dr. Thorsten Kleinschmidt, selbst Hausarzt und Bezirksvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen für die Region Braunschweig, spricht von einem großen Beratungsbedarf. „Der Astrazeneca-Impfstoff ist völlig unberechtigt immer noch für viele ein Problem“, sagt er. „Bei uns will jeder Zweite bis Dritte den Impfstoff nicht.“ Dabei sei dieser gut, das Risiko von Nebenwirkungen vergleichsweise sehr gering.

Die Impfkampagne nimmt mit Hilfe der Hausärzte an Fahrt auf

Tatsächlich stehen die Ärzte derzeit vor einem Dilemma. Die Impfungen in den Praxen laufen sehr erfolgreich, seit die Vertragsärzte mit im Boot sind, hat die Impfkampagne deutlich an Fahrt aufgenommen. Über fünf Millionen Dosen der Corona-Vakzine haben die Vertragsärzte allein bis Ende April verimpft, meldete das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung vor einigen Tagen – und dass, obwohl die Praxen gerade einmal seit vier Wochen dabei sind. Zum Vergleich: In den Impfzentren wurden seit dem Start der bundesweiten Corona-Impfungen bislang 23,7 Millionen Vakzine-Dosen verabreicht.

Der organisatorische und bürokratische Aufwand ist allerdings enorm. Die Telefone in den Praxen stehen nicht mehr still, der Maileingang läuft über – und dabei muss auch noch das normale Geschäft weiterlaufen. Informationen über Impfstoffart und – menge kommen erst kurzfristig, was die Planung zusätzlich erschwert. Dass Patienten in den Hausarztpraxen individueller betreut und beraten werden können, sehen die Ärzte als einen Vorteil. Doch es gibt Grenzen. „Die Beratung müssen wir kurz halten, sonst schaffen wir die Regelversorgung nicht“, sagt Kleinschmidt.

Ältere sollten besser nicht die Impfung mit Astrazeneca ablehnen

Zuletzt ist die gelieferte Menge von Astrazeneca an die Hausärzte gestiegen. Rund drei Millionen Dosen beträgt laut Bundesgesundheitsministerium die gesamte Impfstoffmenge für die Praxen in der ersten Maiwoche – davon stehen etwa die Hälfte von Biontech, ein Drittel von Astrazeneca und erstmals etwas mehr als zehn Prozent von Johnson & Johnson zur Verfügung. Wie kann der Impfstoff optimal an die Leute gebracht werden?

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Impfungen stellen einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar, Risiken müssen daher immer besonders abgewogen werden. Allerdings führt laut Zentralinstitut für die Kassenärztliche Vereinigung in Deutschland in der pandemischen Gesamtlage auch der Verzicht auf die Impfung zu einem Risiko, an einer Covid-19-Erkrankung zu versterben. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (Degam) hat nun eine Handreichung für Patienten erarbeitet, eine Art Entscheidungshilfe beim Abwägen von Nutzen und Risiken. „Covidimpfung – mit Astra starten oder warten?“ lautet die Überschrift. Die klare Botschaft: Gerade für Ältere ist es vermutlich keine bessere Lösung, auf eine Impfung mit dem Wirkstoff von Biontech oder Morderna zu hoffen.

Eine Handreichung für Hausärzte soll über Nutzen und Risiken der Impfung aufklären

Dr. Wolfgang Schneider-Rathert, Arbeitskreissprecher Impfen der Degam, rechnet vor: „Je ungeimpft gewarteten 16 Wochen werden rund 14 von 100.000 Menschen über 60 Jahren wegen einer zwischenzeitlich aufgetretenen Covid-Infektion zusätzlich auf die Intensivstation eingeliefert.“ Die Angaben basieren auf Untersuchungen des „Winton Centre for Risk and Evidence Communication“ der Universität Cambridge. Die Forscher hatten den Nutzen einer potenziellen Corona-Impfung mit der theoretisch möglichen Nebenwirkung Thrombose verglichen. In fast allen Fällen und Altersgruppen ist demnach das Risiko eines ernsten Covid-19-Verlaufs höher als das Risiko einer schweren Impf-Nebenwirkung. Je höher die Inzidenz, je höher also das Risiko einer Corona-Infektion ist und je älter die Menschen sind, desto höher ist der Nutzen einer Impfung mit Astrazeneca.

Auch verglichen mit anderen Alltagsrisiken zeigen sich die Vorteile einer Impfung mit diesem Vakzin: Das Risiko einer schweren Schädigung für einen 55-Jährigen ist ähnlich, wie innerhalb von vier Jahren einmal vom Blitz getroffen zu werden“, heißt es in der Handreichung. „Sehr viel wahrscheinlicher ist es leider, im Straßenverkehr oder durch einen Unfall ums Leben zu kommen.“ Noch viermal häufiger als der Tod durch einen Unfall sei aber für 55-Jährige der Tod an oder mit einer Coronainfektion.

Je älter der Mensch, desto besser verträglich ist die Impfung

Dr. Wolfgang Schneider-Rathert ist Allgemeinmediziner in Braunschweig-Querum.
Dr. Wolfgang Schneider-Rathert ist Allgemeinmediziner in Braunschweig-Querum. © Privat | Foto

Schneider-Rathert kann nachvollziehen, warum Menschen verunsichert sind: Probleme begleiteten Astrazeneca schon seit der Erprobung des Wirkstoffes. Das fing bei den Studiendaten des britischen Herstellers im Herbst an, als einige Teilnehmer zunächst nur eine halbe Dosis erhielten und später die Daten aus dieser Gruppe mit einer anderen, umfangreicheren Studie verrechnet wurden. Dann lagen keine ausreichenden Informationen für die Altersgruppe der über 65-Jährigen vor. Weil Millionen Menschen in Großbritannien aber offenbar erfolgreich mit Astrazeneca geimpft wurden, ließ Deutschland den Impfstoff Anfang März doch für Ältere zu. Schließlich kamen Meldungen auf, dass einige wenige Geimpfte, die fast ausschließlich jünger als 60 Jahre alt waren, in zeitlichem Zusammenhang mit einer Astrazeneca-Impfung eine Hirnvenenthrombose bekommen haben. Deshalb soll der Impfstoff nur noch Menschen über 60 Jahren verabreicht werden. „Wenn sich das Bild dreht – erst sollen die Jüngeren, dann nur noch die Älteren mit dem Wirkstoff geimpft werden, muss das zwangsläufig zu Verwirrung führen“, sagt der Allgemeinmediziner aus Braunschweig. Dennoch kommt er zu dem Fazit: Wer die größtmögliche Sicherheit für sich suche, sollte sich lieber zeitnah mit Astrazeneca impfen lassen. „Und: Je älter ein Mensch ist, desto besser verträglich und nötiger ist die Impfung mit diesem Wirkstoff.“

Eine Öffnung für alle Altersgruppen würde den Beratungsaufwand wieder steigern

Die Europäische Arzneimittelagentur empfiehlt weiter den Impfstoff von Astrazeneca – aus guten Gründen, wie auch der Allgemeinmediziner Kleinschmidt betont. Die Empfehlung des Robert-Koch-Instituts (RKI), es nicht unter 60-Jährige zu verimpfen, hält er für falsch. Die Mehrzahl der vermeintlichen Ereignisse sei bei jüngeren Frauen aufgetreten. Eine dahingehende Empfehlung des RKI hätte weniger Panik verbreitet, sagt er.

Auch die Empfehlung der Ständigen Impfkommission, den bereits mit Astrazeneca Geimpften unter 60 Jahren als zweite Impfstoffdosis Biontech zu verabreichen, kann er nicht nachvollziehen. Die Weltgesundheitsorganisation und medizinische Fachleute rieten, beim selben Impfstoff zu bleiben. „Hält man sich nicht daran, ist das ein Experiment mit offenem Ausgang“, sagt Kleinschmidt. Es gebe keine Erfahrungen mit der Kombination der Impfstoffe. „Ich werde das jedenfalls nicht machen.“

Dass einige Bundesländer nun dazu übergehen, den Impfstoff auch wieder für Jüngere zu öffnen, sehen viele Ärzte in Niedersachsen allerdings kritisch. In Bayern, Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen können sich Erwachsene aller Altersgruppen nach Beratung mit dem Hausarzt mit dem Vakzin impfen lassen. „Auch das würde bedeuten, dass der Beratungsaufwand in den Praxen weiter steigt“, gibt Gieseking vom Hausärzteverband zu Bedenken. Und noch gebe es genügend Patienten über 60, die sehnsüchtig auf eine Impfung warten – und die gerne bereit sind, sich auch mit Astrazeneca impfen zu lassen.

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