Braunschweig. Es gibt nicht nur den Streit über die Teilnehmerzahl in Berlin, sondern auch Kritik an der Politik. Diese höre auf die falschen Corona-Experten.

Das Thema sorgt für Bauchschmerzen, bei allen Beteiligten. Über den Protestzug und die anschließende Kundgebung, die von der Initiative „Querdenken 711“ aus Stuttgart am Wochenende in Berlin organisiert worden war, gibt es auch drei Tage später noch viel zu sagen. Die Demonstration war von der Polizeibehörde zunächst untersagt worden, später vom Berliner Verwaltungsgericht genehmigt und in zweiter Instanz von dem Oberverwaltungsgericht in der Hauptstadt bestätigt worden.

Am Samstagabend hatte dann die versuchte Stürmung des Reichstags von rund 400 als rechtsextrem eingestuften Personen für Aufsehen gesorgt und die Schlagzeilen der nächsten Tage bestimmt. Seitdem wird über den besonderen Schutz von Parlamenten in Deutschland genauso diskutiert wie über die Frage, ob man Bannmeilen auch in der politischen Sommerpause bräuchte. Und es wird gestritten, wer in Berlin Absperrungen überrannte. Erst sprach beispielsweise die „Bild“-Zeitung allgemein von Chaoten, um anschließend zu fragen: „Wer wollte da alles den Reichstag stürmen?“

Was darf noch gesagt und geschrieben werden?

Es waren auch Menschen aus der Region vor Ort, die friedlich für ihre Rechte auf die Straße gingen. Das waren die allermeisten, sagen Beobachter unisono. Ein Teilnehmer der Demo monierte die Diskrepanz zwischen dem, was öffentlich berichtet worden sei, und den Fakten über Corona, die niemand schreiben dürfe. Hier verlasse man sich ausschließlich auf die wissenschaftliche Expertise weniger und lasse Meinungsvielfalt nicht zu.

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    Das sagt auch Leserbriefschreiber Dr. Rainer Nickelsen. „Die werden einfach nicht gehört“, erklärt er. Nickelsen ist Zahnarzt aus Braunschweig. Seinen Leserbrief werden wir, leicht gekürzt, in der Folge an dieser Stelle veröffentlichen. Der Autor hat mit ihm telefoniert und sein Einverständnis dazu eingeholt.

    Auseinandersetzung mit Argumenten der Demonstranten verlaufe nicht vorurteilsfrei

    Zur Querdenkerdemo in Berlin schreibt er: „Bei jeder Berichterstattung über die Grundrechtedemos in Berlin vermisse ich die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit den Argumenten der Redner auf dem Siegessäulenplatz. Bei objektiver Betrachtung der RKI-Daten, lässt sich bei gut 200 intensivbetreuten Covid-19-Erkrankten in Deutschland keine epidemiologische Notsituation erkennen, die weiterhin die mit erhöhten Bußgeldern belegten Maßnahmen rechtfertigt“, schreibt Nickelsen.

    „Selbst die von Minister Spahn auf fast eine Million PCR-Tests pro Woche gesteigerte Virussuche fördert kaum eine Steigerung der Erkrankungszahlen. Ein positiver PCR-Test weist Nukleinsäure-Fragmente nach, eine Infektion bedeutet dies per se nicht. Und selbst eine Infektion bedeutet noch keine Erkrankung“, fügt er an.

    Leserbriefschreiber moniert „Kultur des Weglassens“

    Nickelsen kritisiert auch „eine Kultur des Weglassens“: „Bei der medialen Berichterstattung habe ich z.B. die Rede des extra aus den USA angereisten Neffen von J. F. Kennedy, R. Kennedy, vermisst. Er sprach über das Kindeswohl in Zeiten der Verquickung von Pharmakonzernen und Regierungen. In der US-Presse wurde diese Reise mit einer Rede vor 5000 Nazis kommentiert.“

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    Und weiter schreibt er: „Dass der Bundespräsident die drei Polizisten belobigt, die den Reichstag sicherten, ist lobenswert. Der Ausgewogenheit wegen sollte es allerdings einen Rüffel für den Polizisten geben, der eine von Kollegen am Boden fixierte Demonstrantin mit drei Faustschlägen in den Nacken gefügig machte. Wie war das noch mit den allgemein gelobten Black-Lives-Matter-Demos gegen Polizeigewalt und Rassismus? Unseren Qualitätsmedien ist also mindestens das Prädikat ,Lückenpresse’ zuzuweisen“, moniert er.

    Grundrechts-Einschränkungen sind „unverhältnismäßig“

    Was die meisten Demonstranten eint, ist die Wut über die Unverhältnismäßigkeit, mit der die Politik aus ihrer Sicht auf das Infektionsgeschehen reagierte und weiter reagiert. Dann wird von Kollateralschäden gesprochen, die schlimmer seien als das Virus selbst. Dass eine Mehrheit der Deutschen zu jeder Phase der Pandemie die Maßnahmen der Bundesregierung unterstützt hat, bleibt in diesen Debatten oft unerwähnt – aber auch das gehört zur Wahrheit.

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    Eigentlich sollte ein Kritiker dieser Maßnahmen, der auch in Berlin dabei war, an dieser Stelle ausführlich zu Wort kommen. Den Artikel hatte diese Zeitung unaufgefordert dem Gesprächspartner vorgelegt. Trotz einer zugesicherten Anonymisierung wollte er ihn später nicht freigeben. Vieles sei falsch wiedergegeben worden, sagte er. Diese Zeitung respektiert seine Meinung. Es zeigt, wie unversöhnlich Positionen sich gegenüberstehen und wie groß das Misstrauen ist.

    Ulf Küch, prominenter Kritiker, kritisiert schon länger die Maßnahmen gegen das Virus

    Andere, wie Ulf Küch aus Sauingen, halten Kritik für legitim, nein, für notwendig. Er nennt die eingeschränkten Grundrechte im Zuge der Pandemie für vorher schlicht unvorstellbar. Die Freiheit sei das höchste Gut der Demokratie, sagt Küch, der auch schon für die FDP politisch aktiv war. Er postet beinahe täglich etwas zu Corona. Küch leitete früher die Braunschweiger Kripo. Auch wenn es nicht unmittelbar zur Sache gehört, sollte es Erwähnung finden, denn viele Leser kennen ihn und schätzten auch seinen Mut zum Klartext, beispielsweise bei der Bewältigung der Herausforderungen, die durch die Flüchtlingskrise 2015 entstanden waren.

    Noch im Mai gab Küch dieser Zeitung ein Interview, in dem er die Seriosität der Politik anzweifelte und den Lockdown als unerträgliche Belastung anprangerte. Leser stimmten zu, reagierten auf das Gesagte aber auch mit Vorwürfen: Nörglertum und Besserwisserei warfen sie ihm unter anderem vor. „Die Belastungen seien nicht unerträglich“, war eine Replik auf das Interview.

    „Kann ich Covid ernst nehmen und gleichzeitig autoritäre Maßnahmen anprangern?“

    Selbstwahrnehmung. Das Ich als Schnittmenge zwischen verschiedenen Positionen.
    Selbstwahrnehmung. Das Ich als Schnittmenge zwischen verschiedenen Positionen. © Privat

    Was Küch im folgenden unserer Zeitung erläutert, sagt er ausschließlich als Privatperson. Das zu betonen, ist ihm wichtig. „Ich leugne weder das Virus, noch dessen Folgen bei einigen Menschen. Ich bin allerdings gegen die mittlerweile unverhältnismäßigen Maßnahmen der Regierung und ich kritisiere, dass ein wirklicher Disput der Wissenschaftler ausgeschlossen ist. Es muss wieder in einen Dialog eingetreten werden“, schreibt er per Mail.

    Zuletzt lud er eine Zeichnung bei Facebook hoch, die man aus der Mathematik kennt. Es geht um Schnittmengen, um kleinste und größte gemeinsame Nenner. Im Schnitt dreier Kreise steht das Wort „Ich“. Umgeben wird dieser Kreis von drei weiteren Kreisen, die mit drei Beschreibungen versehen sind: Darauf ist zu lesen: „Leute, die Covid19 ernst nehmen“, „Leute, die sich Gedanken über zunehmend autoritäre Maßnahmen machen“ und „Leute, die sich Sorgen über die Auswirkungen einer Wirtschaftskrise machen“. Überschrieben ist die Mengenlehre mit dem Satz: „Ob du es glaubst oder nicht, es ist okay, alles drei zu sein.“

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    Wieviele Menschen waren in Berlin? „Unterschiedliche Angaben verunsichern!“

    Küch war am Wochenende nicht in Berlin, dafür am 1. August bei der ersten „Querdenker“-Demo in der Hauptstadt. Auch damals gab es, wie jetzt auch, eine Diskussion über die Teilnehmerzahl. Er gehe davon aus, dass weder die Angaben der Polizei noch die des Veranstalters stimmen würden. Diese Form der Unter- beziehungsweise Übertreibung sei schlimm, denn sie verunsichere die Menschen zusätzlich, sagt Küch. Zahnarzt Nickelsen berichtet, ihm hätten Patienten gesagt, dass mindestens 100.000 Menschen am Wochenende dem Aufruf gefolgt seien. Sie hätten das auch mit eigenen Augen gesehen. Die Polizei hatte von rund 40.000 Demo-Teilnehmern gesprochen.

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