Braunschweig. 100 000 Tonnen Reifenabrieb kommt jährlich von den Straßen über die Kanalisation ins Ökosystem. Über die genaue Verbreitung ist aber wenig bekannt.

Ist schon mal untersucht worden, wie viel höher der Reifenabrieb bei „sportlicher Fahrweise“ ist? Die Frage wäre genauso wichtig wie die nach Stickoxid und CO2.

Das fragt unser Leser Richard Goedeke

Das Thema recherchierte Julia Popp

Von Oktober bis Ostern sollten Autofahrer laut einer Faustregel ihre Winterreifen aufziehen. Spätestens beim Reifenwechsel fällt dann auf: die Profiltiefe schwindet. „Ein Autoreifen verliert innerhalb seines im Durchschnitt 40 000 Kilometer langen Lebens bis zu 1,5 Kilogramm Gewicht“, erklärt Ralf Bertling vom Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik in Oberhausen. Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Straßenwesen aus dem Jahr 2010 landen so jährlich mehr als 100 000 Tonnen abgefahrenes Gummi auf deutschen Straßen. Der Abrieb gilt als eine der größten Quellen für Mikroplastik: Laut einer Fraunhofer-Studie entfallen rund ein Drittel der Mikroplastik-Emission auf Reifen. Von den Straßen gelangen die Partikel weiter in Gewässer und Böden.

Doch obwohl das Thema lange bekannt ist, gibt es keine umfassenden Studien zu Menge oder Verbreitung. Mit Blick auf die Frage unseres Lesers kann Fraunhofer-Forscher Bertling aber sagen: „Fahrverhalten und Geschwindigkeit beeinflussen den Abrieb.“ Raser allein dafür verantwortlich zu machen, sei aber falsch, betont Bertling. Denn ob mehr Reifenpartikel auf Autobahnen oder im städtischen Verkehr, etwa durch vermehrtes Bremsen anfallen, sei bislang noch unklar. In dem Forschungsprojekt „Tyre Wear Mapping“, das vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur gefördert wird, wollen die Fraunhofer-Forscher das untersuchen. „In den kommenden zwei Jahren schauen wir: Auf welchen Straßen liegt am meisten Abrieb, wie verteilt sich das?“ Bei der Reifenherstellung ganz auf den Abrieb zu verzichten, sei aus physikalischen Gründen aber nicht möglich. „Der Abrieb hat eine wichtige Funktion: ohne ihn hätte das Fahrzeug in Kurven nicht genug Stabilität“, erklärt Bertling.

Aber wie kommen die Reifenpartikel von der Straße überhaupt ins Wasser? Katrin Bauerfeld vom Institut für Siedlungswasserwirtschaft an der TU Braunschweig erklärt: „Der Abrieb gelangt in der Stadt über das Regenwasser in die Gullys und von dort in die Kanalisation.“ Das Wasser werde anschließend in Klärwerken gereinigt und das Mikroplastik herausgefiltert. „Es ist aber davon auszugehen, dass das Wasser nicht komplett mikroplastikfrei ist“, sagt Bauerfeld.

Problematisch sei vor allem, betont Bauerfeld, wenn Mikroplastik gar nicht erst in die Kläranlagen gelangt. Das sei etwa beim Abwasser-Trennsystem der Fall: „Dabei wird das Niederschlagswasser ohne weitere Behandlung in Regenrückhaltebecken oder direkt in Flüsse geleitet, zum Beispiel in die Oker“, erklärt Bauerfeld. Auf Autobahnen fließe das Wasser ungereinigt einem Fluss zu oder versickert im Boden.

Um das Problem mit dem Plastik in der Umwelt anzugehen, forscht die TU Braunschweig in einem von 18 Verbundprojekten des Bundesforschungsministeriums, wie der Eintrag von Mikroplastik in Kläranlagen reduziert werden kann. „In der Kläranlage in Braunschweig wollen wir untersuchen, was dort landet und welche Partikel nach der Reinigung im Wasser bleiben“, sagt Bauerfeld.

Speziell mit Autoreifen und deren Verbreitung in Kläranlagen beschäftigt sich im Rahmen des Projekts „Reifen für die Umwelt“ die TU Berlin. Gefördert wird das 2017 gestartete Projekt ebenfalls vom Bund. Beteiligt sind neben den Berliner Wasserbetrieben der Reifenhersteller Continental, Volkswagen sowie der ADAC. Die Untersuchungen werden im Labor, auf kontrollierten Teststrecken und auf verschiedenen Straßentypen durchgeführt. Matthias Barjenbruch vom Fachgebiet Siedlungswasserwirtschaft, der das Projekt koordiniert, erklärt: „An Ampeln, Kreiseln und Bushaltestellen fegen wir den Abrieb zusammen und können so feststellen, wo mehr oder weniger Reifenabrieb anfällt.“

Thomas Ohlendorf, Vorsitzender der BUND-Kreisgruppe Salzgitter, begrüßt die umfassenden Forschungen: „Wichtig ist aber, nicht nur zu analysieren, sondern auch über Maßnahmen nachzudenken.“ Der Reifenabrieb lande schließlich nicht nur in Gewässern und damit in der Umwelt, sondern auch als Feinstaub in den Lungen der Menschen. Ohlendorf appelliert deshalb auch an die Politik: „Das Problem wird uns noch lange beschäftigten. Deshalb muss über ein Tempolimit nachgedacht werden.“