Berlin. Weil die Menschen immer älter, aber auch gebrechlicher werden, fordern Ärzte neue Versorgungsstrukturen. Die Krankenkassen sehen das kritisch.

Unser Leser Jürgen Kröhl aus Bechtsbüttel fragt:

Schon eine Woche nach meiner schweren OP ging es aus dem Braunschweiger Klinikum direkt zur Reha nach Bad Lauterberg. Ist das ein neuer Trend?

Die Antwort recherchierten Natascha Plankermann und Kerstin Loehr

Dass die Deutschen inzwischen locker ihren 80. Geburtstag und danach noch viele weitere feiern, ist für Stefan Knecht zunächst ein gutes Zeichen: „Es bedeutet ja, dass die Medizin immer besser geworden ist. Ältere Menschen können sich zum Beispiel besser nach Operationen wie einem Hüft- oder Herzklappen-Eingriff erholen, weil diese inzwischen minimal-invasiv und nur mit kleinen Schnitten möglich sind“, sagt der Professor für Neurologie an der Universität Düsseldorf, der zugleich die St.-Mauritius-Therapieklinik Meerbusch leitet. So kommt es, dass die Kurve steil ansteigt, wenn das Statistische Bundesamt die Altersstruktur in Deutschland prognostiziert: Im Jahr 2060 sollen rund 34 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre oder älter sein.

Älter zu werden bedeutet allerdings nicht gesünder – im Gegenteil: „Wir beobachten bei unseren Reha-Patienten allein in den letzten drei Jahren eine Zunahme von Begleiterkrankungen – also zum Beispiel Diabetes oder chronische Herz-Kreislauf-Krankheiten. Das Risiko, dadurch etwa nach einem Schlaganfall an einer Lungenentzündung oder einer Embolie (Verschluss eines Blutgefäßes, Anm. d. Red.) zu sterben, steigt“, erklärt Knecht. Früher wären die Reha-Patienten mit Köfferchen in der Hand angereist, heute kämen sie im Krankenwagen oder sogar mit dem Hubschrauber.

Auch unser Leser Jürgen Kröhl machte diese Erfahrung nach seiner Operation. „Im Braunschweiger Klinikum wurden schon früh die Weichen für die anschließende Behandlung gestellt“, erzählt er und lobt die gute Zusammenarbeit mit der Reha-Klinik in Bad Lauterberg. „Wenn da Hand in Hand gearbeitet wird, ist das natürlich gut für die Patienten.“

Vor allem ab Mitte 70 sollten Patienten laut Stefan Knecht möglichst selten aus der Reha-Klinik wieder zurück ins Krankenhaus verlegt werden. Zusätzlich werde dadurch die Rehabilitation unterbrochen. „Deshalb wollen wir intensive Medizin und intensive Reha zusammenbringen, um die Patienten besser zu versorgen“, betont der Neurologe, der jetzt in Nordrhein-Westfalen eines von drei Zentren für Integrierte Neurorehabilitation in seiner Klinik bei Düsseldorf geschaffen hat. Das bedeutet, dass innerhalb der Reha-Klinik eine Intensivstation wie in einem Krankenhaus arbeitet, die gerüstet ist, wenn ein Patient plötzlich zusammenbricht. „Eine Studie aus Taiwan aus dem Jahr 2017 besagt, dass vier von zehn Patienten mit schwerem Schlaganfall nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus innerhalb der ersten zwei Monate Komplikationen wie neue Schlaganfälle, Herzinfarkte oder Lungenentzündungen bekommen“, so Knecht.

Im Klinikum Wolfsburg werden im Durchschnitt zweimal pro Tag Patienten mit einem Schlaganfall ins eingeliefert. Seit wenigen Jahren gibt es für sie auch hier vor Ort eine ganzheitliche Behandlung in Form der „Stroke Unit“. Chefarzt Dr. Hakan Cangür erklärt: „Vom ersten Tag an kümmert sich um den Patienten ein multiprofessionelles Team, in dem Ärzte, Krankenpfleger, Logopäden, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und der Sozialdienst zusammenarbeiten.“ Nach ungefähr einer Woche seien die meisten Patienten bereits in der Reha.

Dabei ist Rehabilitation heute längst nicht mehr gleichbedeutend mit Schonung: „Die Patienten müssen sich schon kurz nach einer Operation aufsetzen, lernen, sich selbst zu pflegen und wieder zu gehen“, sagt der Neurologe Knecht. Selbst diejenigen, die noch an ein Beatmungsgerät angeschlossen sind, sollen nicht still im Bett liegen.

„Wir trainieren unter anderem die Atem-Muskulatur und das Zwerchfell, indem die Leistung der Maschine reduziert wird und der Mensch sich selbst anstrengen muss, um ausreichend Luft zu bekommen“, erklärt der Experte. Geleistet werde dies durch ein fachübergreifendes Team aus Neurologen, Internisten, Kardiologen, Geriatern, Psychiatern, Neurochirurgen und anästhesiologischen Intensivmedizinern mit Rehabilitationstherapeuten und spezialisierten Pflegekräften.

„Die frühe Reha, die schon im Krankenhaus einsetzen soll, ist bereits seit den 1990er-Jahren im Sozialgesetzbuch festgeschrieben. Allerdings sind für diese Behandlung eine besondere Qualifikation und viel Erfahrung notwendig – und diese Vorgaben können viele Krankenhäuser nicht erfüllen“, sagt Professor Thomas Mokrusch.

Der Neurologe ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR) und ärztlicher Direktor der Medi-Clin Hedon Klinik Lingen. „In meiner Klinik und in vielen anderen in Deutschland machen wir seit Jahren gute Erfahrungen damit, dass Patienten von Akut- und Reha-Medizinern betreut werden, die Hand in Hand arbeiten.“ Die DGNR befürworte es, dass „aus den Schnittstellen zwischen Krankenhaus und Reha-Klinik Kontaktbereiche werden.“

Bei den Krankenkassen wird diese Entwicklung kritisch beobachtet. Das liegt zum einen daran, dass das Gesundheitssystem in Sektoren eingeteilt ist, von denen jeder Bereich gesondert bezahlt wird. Die Kooperation von Krankenhäusern und Reha-Kliniken ist darin bisher nicht vorgesehen.

Zum anderen findet Simon Loeser, Leiter des Unternehmensbereichs Stationäre Versorgung bei der AOK Rheinland/Hamburg, es „in höchstem Maße besorgniserregend, dass schwerstkranke Patienten, bei denen auch während der Frührehabilitation häufig lebensbedrohliche Probleme auftreten, nun in Reha-Kliniken versorgt werden“. Nach seinen Worten ist an den bisherigen Behandlungsverläufen bereits klar erkennbar, „dass das Komplikationsmanagement in den neuen Einrichtungen unzureichend ist und die therapeutischen Möglichkeiten nicht den Standards einer großen Akutklinik entsprechen“. Er spricht gar von einem „versorgungspolitischen Irrweg“.

Derweil balancieren die Beteiligten in den Kliniken auf einem schmalen Grad, um ihre Zusammenarbeit zu organisieren, zugleich aber betriebswirtschaftlich getrennt zu arbeiten. Und sie sind der Meinung, dass es sich lohnt: „Wir sehen langfristige Erfolge, weil wir unsere Patienten im Blick behalten und die Rehabilitation trotz Komplikationen fortführen können. Im nächsten Schritt sollten die Hausärzte einbezogen werden, damit das Konzept weiter ausgebaut wird“, sagt Stefan Knecht.