Braunschweig. Das SPD-Urgestein Gerhard Glogowski hofft darauf, dass der Goslarer Außenminister bleibt – und Nahles den Parteivorsitz übernimmt.

Der Braunschweiger Gerhard Glogowski hat die Niedersachsen-SPD geprägt – erst als Innenminister, dann als Ministerpräsident. Armin Maus und Andre Dolle sprachen mit ihm über eine Partei im Krisenmodus.

Ihre SPD steht in den Umfragen nur noch bei 16,5 Prozent, die designierte Parteichefin Andrea Nahles wird als „Trümmerfrau der SPD“ verspottet. Macht Sie das traurig?

Die Situation ist schwierig. Die Partei muss wieder zeigen, wofür sie steht, wo sie hin will. Wenn sie das schafft, kommt sie schnell wieder aus der Lage heraus.

Die Partei kommt aber nicht zur Ruhe. Viele in der SPD begehren nun wegen des vorzeitigen Stabwechsels an Andrea Nahles auf. Soll sie als Nachfolgerin von Martin Schulz Parteichefin werden?

Nahles ist als Fraktions-Chefin im Bundestag die logische Besetzung. Es ist vernünftig, den Fraktionsvorsitz und den Parteivorsitz zusammenzuführen. Nahles wäre das Gesicht der Partei, würde als starke Stimme wahrgenommen werden. Das braucht die SPD nun.

Nahles erhält überraschend Konkurrenz durch die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange. Sie steht für eine Basiskandidatur. Braucht die Partei Wettbewerb?

Die SPD sollte den Nachfolger oder die Nachfolgerin von Schulz auf einem Parteitag wählen. Da kann sich dann jeder bewerben, der möchte. Das ist bei der SPD nicht unüblich. Frau Nahles sollte es aber werden.

Unser Leser William Rossmann aus Königslutter fragt: Geht es überhaupt noch um Ziele oder nur um Macht, Einfluss und Einkommen?

Wer die Debatte rein oberflächlich betrachtet, wird zuweilen zu diesem Schluss kommen. In Wirklichkeit geht es aber um politische Ziele. Es braucht Persönlichkeiten, um diese Ziele durchsetzen zu können. Das, was die SPD in den Koalitionsverhandlungen herausgearbeitet hat, gilt es nun umzusetzen. Der Vertrag trägt die klare Handschrift der SPD: Verbesserungen in Gesundheit, Pflege, Bildung, bei den Mieten. Diese Schwerpunkte hat die SPD gesetzt. Leider verdeckt die Personaldiskussion diese Inhalte.

Um eine Personalie kommen wir nicht herum: Bleibt der Goslarer Sigmar Gabriel Außenminister?

Ich würde es mir wünschen, habe aber große Zweifel.

Was halten Sie von Gabriels Aussagen über Martin Schulz? Er hatte unserer Zeitung ja gesagt, dass seine Tochter Marie ihn mit den Worten getröstet habe: „Papa, jetzt hast du doch mehr Zeit mit uns. Das ist doch besser als mit dem Mann mit den Haaren im Gesicht.“

Sigmar Gabriel neigt dazu, zur falschen Zeit das falsche zu sagen. Das hat ihm nie gut getan. Wenn er die Sätze weggelassen hätte, wäre es besser für ihn gewesen – und auch für uns.

Sie kennen Gabriel ja schon sehr lange, waren ein Förderer. Wie würden Sie ihn charakterisieren?

Ich kenne ihn, seitdem er 17 ist. Sigmar Gabriel ist ein Sozialdemokrat, der von der Urquelle der Sozialdemokratie herkommt – von den Falken, wie ich auch. Er ist eine starke Persönlichkeit, hat den Drang, etwas zu verändern. Er hat aber viele Ecken und Kanten. Das führt immer wieder dazu, dass viele, die ihn nicht mögen, Oberwasser bekommen. Er ist manchmal zu schnell. Das ändert aber nichts an seiner großen Qualität, Dinge zu gestalten.

Gabriel ist derzeit einer der beliebtesten Politiker in ganz Deutschland. Kommt man in der SPD an so einem überhaupt vorbei?

Ich würde mir wünschen, man käme nicht an ihm vorbei. Ich fühle mich sehr wohl mit einem Außenminister Gabriel. Die Gefahr ist aber groß, dass seine Gegner sich durchsetzen. Dazu zählen Frau Nahles und Olaf Scholz.

Gabriel hat nun gesagt, dass er seine Äußerungen über Schulz bedauert. Halten Sie das für glaubhaft?

Ja, das tue ich. Die Äußerung war unvernünftig. Wenn er das realisiert, kann er das nur bedauern.

Jetzt kommt Familienministerin Barley als Nachfolgerin von Gabriel ins Spiel. Ist sie im Auswärtigen Amt richtig aufgehoben?

Die SPD sollte endlich mit diesen Personaldiskussionen aufhören und den Parteimitgliedern und den Bürgern die Inhalte des Koalitionsvertrages näherbringen.

Das Ergebnis des Mitgliedervotums soll Anfang März stehen. Was glauben Sie, wie dieses ausfallen wird?

Ich bin überzeugt, dass der kollektive Sachverstand der Sozialdemokraten dazu führt, dass wir in der Regierung bleiben werden.

Warum soll die Groko denn fortgesetzt werden? Die SPD und auch die Union wurden bei der letzten Bundestagswahl abgestraft.

Mir passt die Diskussion „Groko ja – Groko nein“ eigentlich gar nicht. Ich bin mal in die SPD eingetreten, da wollte man noch eine andere Republik. Da hatten wir gedacht, der wissenschaftliche Sozialismus ist so gefestigt, dass die SPD eines Tages die absolute Mehrheit haben wird. Das hat sich als Irrtum herausgestellt. Ich bin aber in eine kämpferische Partei eingetreten. Wir müssen notwendige Dinge im Sinne der Bürger umsetzen.

Vorausgesetzt, die Groko kommt: Was muss die SPD in den kommenden vier Jahren durchsetzen?

Wir müssen die Altersarmut bekämpfen. Es macht mir große Sorgen, dass viele Ältere nicht mehr gut leben können, nicht von ihrer Lebensleistung zehren können. Wir müssen die Zwei-Klassen-Medizin beseitigen. Außerdem müssen wir befristete Arbeitsverhältnisse eindämmen.

Der öffentliche Dienst ist Teil der Ursache. Etwa die Hälfte der Befristungen verteilt der Staat, zum Beispiel sind Lehrer häufig betroffen.

Ja, das macht es schwierig, dass der Staat mit dem Finger auf die Wirtschaft zeigt. Das muss sich definitiv ändern. Der Staat muss Vorbildfunktion haben.

Die SPD unter Kanzler Schröder hatte bei der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes eine Urheberschaft auf sachgrundlose Befristungen.

Damals war das richtig. Politiker machen sich in einer bestimmten Situation stark für eine Lösung. Wenn sich der Markt oder die Situation ändern, müssen Politiker bereit sein, dazuzulernen. Die SPD-Spitze ist bereit dafür. Es gibt keine politischen Entscheidungen für die Ewigkeit.

Es scheint so, als ob die SPD die Bürger der modernen Dienstleistungsgesellschaft nicht mehr hinreichend erreicht. Der Arbeiter hat früher fast schon selbstverständlich die SPD gewählt, der Mitarbeiter im Callcenter macht das heute nicht mehr unbedingt.

In der Republik erwartet ein Drittel der Bevölkerung nichts mehr vom Staat. Das ist alarmierend. Die Politik – nicht nur die SPD – hat sich in den vergangenen Jahren selbst die Prioritäten gesetzt. Sie hätte die Menschen fragen sollen.

Welche Antworten hat die SPD?

Die SPD kam aus dem Bereich der Arbeiterklasse. Wir haben heute eine differenzierte Gesellschaft, auch eine Genuss-Gesellschaft. Die Ansprüche an Politik sind größer geworden – und sie sind nicht mehr so klar definiert. Die SPD hat das Problem, dass sie sozial Benachteiligte und Hedonisten abdecken muss. Die CDU ist da anders gelagert, die kleineren Parteien sowieso. Ein hoch qualifizierter Facharbeiter ist heute sicherlich nicht mehr sozial benachteiligt. Die SPD braucht wieder ein übergeordnetes Thema. Unter Willy Brandt war das die Friedenspolitik und die Ost-West-Entspannung.

Haben Sie eine Idee?

Die SPD muss wieder eine Zukunftsvision unserer Gesellschaft entwickeln. Ich bin aber kein Philosoph, sondern Pragmatiker. Eine solche Vision ist bei der SPD leider nicht wahrnehmbar. Die sozialdemokratisierte CDU hat solch eine Vision genauso wenig.