Braunschweig. Ihr Botschafter in Deutschland, Mart Laanemäe, machte beim Leserforum Mut, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen.

Unser Leser Johannes Wolframm aus Erkerode fragt:

Wie viele Arbeitsplätze in Deutschland vernichtet die Digitalisierung?

Die Antwort recherchierte Christina Lohner

Auf seinen Lieblings-Dienst muss Mart Laanemäe, Estlands Botschafter in Berlin, verzichten: Weil ihm in Deutschland die Technik fehlt, kann er nicht jederzeit auf seinem Smartphone den Stromverbrauch in den heimischen vier Wänden checken. Wäre zum Beispiel das Bügeleisen ungewöhnlich lange angeschaltet, könnte er zu Hause anrufen, ob es jemand vergessen hat.

Eine Internetanwendung kann so für mehr Sicherheit sorgen. Doch genauso wichtig sei auch die Sicherheit der Online-Dienste selbst, betonte der Botschafter beim Leserforum zu den Chancen der Digitalisierung, zu dem unsere Zeitung und der Braunschweiger Bundestagsabgeordnete Carsten Müller (CDU) eingeladen hatten.

Estland ist Vorreiter beim sogenannten E-Government, der elektronischen Verwaltung, wie Laanemäe an zahlreichen Beispielen verdeutlichte. So können Esten online nicht nur ihre Steuererklärung abgeben, sondern etwa auch wählen. Per Chip im Ausweis identifizieren sich die Bürger im Netz und können so Dokumente elektronisch unterschreiben – laut Laanemäe fälschungssicher und streng kontrolliert. Auch die Behörden untereinander sind bereits seit 15 Jahren verbunden. Zwei bis fünf Prozent seines Bruttoinlandsprodukts habe Estland über die Jahre durch E-Government gespart, so Laanemäe.

Der Erfolg der Behörden habe weitere Online-Dienstleistungen nach sich gezogen. So werden etwa Patientendaten elektronisch gespeichert und können so einfach zwischen Ärzten ausgetauscht werden – bei Zustimmung des Patienten, wie Laanemäe klarstellte. Oder aber ein chronisch kranker Patient spart sich dadurch einen Arztbesuch: Die Praxis schickt sein neues Rezept direkt an die Apotheke. Der Botschafter betonte, wie wichtig eine sorgfältige Gesetzgebung für all diese Anwendungen sei: „Datenschutz ist eine Frage der Gesetzgebung.“

Auch eine lebendige Start-up-Szene – mit den meisten Gründern im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – habe sich in Estland etabliert, berichtete Laanemäe. Das große Vorbild ist Skype: Das einst estnische Start-up gehört heute Microsoft. „Das beflügelt die Menschen, das nächste Skype zu werden.“

Deutschland schneidet laut internationalen Rankings bei der Digitalisierung in der Wirtschaft zwar besser ab als der europäische Nachbar im Norden, wie Dirk Bode erläuterte, Chef des Braunschweiger Software-Unternehmens FME. Doch bei den digitalen Behördenleistungen ist das Verhältnis genau umgekehrt, wie alle Diskussionsteilnehmer sowie Armin Maus, Chefredakteur unserer Zeitung, der die Gäste eingangs begrüßte, feststellten. Wie können wir also von Estland lernen, wollte nicht nur Wirtschaftsredakteur Andreas Schweiger wissen, der die Diskussion mit Müller moderierte.

Den Schlüssel zum Erfolg der neuen Techniken in seinem Land sieht Laanemäe in der Begeisterung und dem Vertrauen der Bevölkerung. Erfunden wurden die Technologien nicht in Estland, wie er klarstellte. Doch die Esten hätten die Dienste schon vor 20 Jahren von ihren skandinavischen Nachbarn übernommen – auf Initiative der Zivilgesellschaft, Bürger hätten dafür geworben. Heute gebe es auch im entlegensten Winkel des Landes kostenloses W-Lan – und fast überall 4G als Tempo für die mobile Datenübertragung.

Woher diese Aufgeschlossenheit kommt, konnte sich auch Laanemäe nicht so recht erklären. Zum Teil liege die starke Verbreitung von Online-Diensten aber wohl auch an einem gewissen Zwang: Während etwa Finnland seinen Bürgern freistellte, ob sie einen Chip in ihrem Ausweis wollen, hatten die Esten hier keine Wahl. In Finnland nutze heute nur etwa jeder Dritte täglich die Technik, so Laanemäe.

In Deutschland mangele es noch an der Kultur dafür und neuen Geschäftsmodellen, weil der wirtschaftliche Erfolg als Exportweltmeister uns womöglich daran hindere, mutmaßte Bode. „Wir müssen dringend Geschwindigkeit aufnehmen“, forderte auch Müller. Hierzulande würden zu oft die Risiken statt Chancen beleuchtet. So könnten zum Beispiel durch mehr Datenaustausch im Gesundheitswesen Krankheitsverläufe präziser vorausgesagt und so die Behandlung verbessert werden.

Andreas Rausch, Leiter des Lehrstuhls für Software Systems Engineering an der TU Clausthal, mahnte wie Bode an, Innovationen gezielter zu fördern, durch Aufklärung und Bildung wie die Methode Design Thinking, um neue Ideen zu entwickeln. Der Professor sieht hier gerade in Niedersachsen noch jede Menge Nachholbedarf.

Um verkrustete Strukturen zu verlassen, gliederten etwa große Unternehmen wie die Bahn Abteilungen dafür aus, so Bode. Zwar brauche nicht jede Firma einen Chefstrategen für die Digitalisierung, wohl aber eine Digitalstrategie, selbst die kleine Fleischerei. Nicht alle Branchen, wie etwa Chemie, benötigten zwingend neue Geschäftsmodelle. Bestehende Modelle müssten aber auf Verbesserungen überprüft werden. Industriebetriebe verkaufen Rausch zufolge heute immer mehr Leistungen und Service statt Produkte, etwa Bremsleistung statt Bremsen. Mithilfe von Sensoren lässt sich etwa auch die nächste Wartung präziser vorhersagen. „Und wir brauchen Fachkräfte“, sagte Bode. Estland etwa lasse Menschen, die dort ein Unternehmen gründen wollen, für 18 Monate ins Land.

Die Deutschen wären da vermutlich skeptisch, meinte Bode. Hiesige Politiker müssten seiner Meinung nach mehr über die Digitalisierung erfahren: „Wir brauchen Digitalkompetenz bei den Politikern.“ Auch die deutschen Behörden vom E-Government zu überzeugen, sei Sache der Politik, sagte Laanemäe auf die Frage des IT-Unternehmers Hadi Ghorashi aus dem Publikum.

Die Sorge unseres Lesers Wolframm versuchte Bode zu entkräften. Zwar könnten in 20 Jahren rund fünf Millionen der heutigen Arbeitsplätze durch die Digitalisierung verloren gegangen sein, dafür entstehen aber auch neue – so wie nach der industriellen Revolution die Wissensarbeiter kamen. Für die verbleibende Differenz der Arbeitsplätze müsse sich Deutschland mit Ideen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen auseinandersetzen.

Würden wir uns jedoch der Digitalisierung verweigern, werde Deutschland zum „Technikmuseum“, also abgehängt. Wer nicht selbst gestaltet, werde überrollt, mahnte auch Rausch. Und umgekehrt: Wer selbst gestaltet, könne auch mit kontrollieren, etwa beim autonomen Fahren. Müller fürchtet zudem um den Lebensstandard hierzulande, falls die Entwicklung verpasst wird.

Doch Bode zeigte sich zuversichtlich, dass Deutschland nicht abgehängt wird, wenn es jetzt mehr tut: „Wir packen das.“ Der Botschafter stimmte zu: „Sie haben alle Möglichkeiten, die Zukunft selbst zu gestalten.“