Osterode. Irmgard Lüllemann erzählt von ihren Erlebnissen am 8. April 1945 in Osterode – dem Beginn der Todesmärsche durch den Harz.

„Am Vormittag des 8. April 1945 kamen meine kleinen Geschwister Berni und Helga vom Spielen in unsere Wohnung gestürmt. Sie waren völlig aufgelöst: Irmi, Irmi, komm schnell! Am Südbahnhof passiert was Schreckliches! Da steht ein langer Zug. Da sind Soldaten. Die haben Gewehre und brüllen herum. Die zerren Menschen aus den Waggons! Die Soldaten schießen! Die Menschen fallen gleich um. Viele Menschen liegen tot auf der Erde. Große Hunde bellen und beißen und springen die Menschen an. Komm schnell!“, erzählt die Osteroderin Irmgard Lüllemann.

Die Drei rannten zum Osteroder Südbahnhof. Er war nur 200 Meter vom elterlichen Haus entfernt. Irmgard Lüllemann berichtet, was sich vor ihren Augen abspielte: „Vor meinen Füßen kamen Männer in grau-schwarz-gestreifter Sträflingskleidung auf allen vieren den steilen Hang vom Bahndamm hochgekrochen, angetrieben von Peitschenhieben und dem Brüllen der SS-Soldaten. Den Anblick werde ich nie vergessen!“ Sie rannte mit ihren kleinen Geschwistern zurück nach Hause. Dort verriegelte sie die Tür. Und dann hockten sie auf dem Sofa in der guten Stube, eng aneinander gekuschelt und haben geweint.

Die Geschehnisse des 8. April 1945 hat die inzwischen 95-jährige Irmgard Lüllemann bis heute nicht vergessen. Damals war sie 18 Jahre alt. Mit ihrem Vater sowie ihren Geschwistern Berni (4) und Helga (9) – die Mutter war im Alter von 36 Jahren bereits verstorben – wohnte sie am Schäferberg in der Schwiegershäuser Straße 24 oberhalb des damaligen Südbahnhofs. Das Wohnhaus wurde beim Bau der Umgehungsstraße für den Fußgängertunnel abgerissen.

Kaum die Füße heben

„Nachdem ich mich ein wenig gefasst hatte, bin ich ans Fenster gegangen. Da sah ich eine lange Kolonne von Menschen die Straße hochkommen. Sie konnten kaum ihre Füße heben. Viele schleppten sich nur so dahin. Es war ja auch kalt an diesem 8. April.“ Lüllemann konnte den Anblick nicht ertragen und überlegte, wie sie helfen konnte. Sie füllte einen kleinen Eimer mit Wasser, nahm noch einen Emaillebecher mit und rannte vors Haus. Einem der vorbeikommenden Menschen konnte sie den Becher mit Wasser reichen, da gab es auch schon ein Riesengedränge und von überall her kamen flehende Rufe: „Wasser! Wasser! Wasser!“ Hinter ihr ärgerliches Gebrüll. Über ihren Kopf sauste der laut zischende Lederriemen einer Peitsche durch die Luft. „Hau ab!“

Irmgard Lüllemann mit ihren handschriftlichen Aufzeichnungen.
Irmgard Lüllemann mit ihren handschriftlichen Aufzeichnungen. © HK | Rita J. Sührig

„Ich duckte mich, drehte mich um und sah einen SS-Mann, der sich drohend vor mir aufbaute.“ Völlig verängstigt rannte sie nach Hause. Ihre kleinen Geschwister hockten noch immer in der Stube. Aber Irmgard wollte irgendwie helfen. In der Speisekammer fand sie zwei leere Flaschen, die sie hastig mit Wasser füllte und schickte Helga und Berni nach draußen mit den Worten: „Habt keine Angst! Die Menschen tun euch nichts. Die erste Hand, die sich euch entgegenstreckt, der gebt die Wasserflasche.“ Das taten die Kleinen. Von den SS-Soldaten unbemerkt konnten sie die zwei Wasserflaschen verteilen.

Am späten Nachmittag kam der Vater nach Hause. Er war bei einer Schraubenfabrik beschäftigt. „Er sah aus, als sei er krank. Ganz bleich. Mit tränenerstickter Stimme rief er: „Kinder, Kinder! Was ich heute gesehen und erlebt habe, dafür werdet ihr und eure Kindeskinder noch büßen müssen!“

Halbtot vor Durst

Nach Feierabend hatte er sich auf den Heimweg gemacht. Sein Weg führt an der Söse entlang. Vorbei am Gipswerk und Barackenlager der Zwangsarbeiter, die im Stollen Ührder Berg ins Gips- und Kalkgestein hauen mussten. Der Vater ging die Söse aufwärts Richtung Rote Mühle und Kupferhammer. Dort fließt der Mühlengraben in die Söse. Hier kam ihm die riesige Menschenkolonne entgegen. Der Vater erzählte: „Die Menschen konnten sich kaum auf den Füßen halten. Sie wollten zum Wasser. Sie warfen sich am Söseufer auf den Erdboden. Sie lagen übereinander. Sie versuchten, das kalte Wasser so gut es ging mit den Händen zu schlürfen. Aber die SS-Soldaten kamen mit ihren Peitschen und Hunden und ließen sie nicht trinken. Sie jagten die Menschen hoch. Ich habe geschrien: „Lasst ihnen doch einen Schluck Wasser! Das sind doch Menschen! Sie sind doch schon halbtot vor Durst!“ Aber die SS-Soldaten fielen über ihn her und trieben ihn weg.

Und dann erzählte Irmgard dem Vater, was sie und ihre Geschwister an diesem Tag erlebt hatten. Der Vater war entsetzt, schimpfte und ermahnte sie, in Zukunft nicht so leichtsinnig zu sein, sondern unbedingt in der Wohnung zu bleiben.

Unvergessene Bilder

Das Entsetzen ist Irmgard Lüllemann selbst nach 77 Jahren noch immer anzumerken. Sie wird die Bilder dessen, was sie am Südbahnhof sah, nicht mehr los. „Es war so schrecklich! Die Menschen haben mir so leid getan. Ich wollte doch nur helfen. Zumindest habe ich es versucht…“

Die Grafik zeigt die Strecken der Todesmärsche im Jahr 1945 durch den Harz.
Die Grafik zeigt die Strecken der Todesmärsche im Jahr 1945 durch den Harz. © Wegezeichenprojekt Westharz / Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion

Was Irmgard, ihre Geschwister und ihr Vater an diesem 8. April 1945 erlebten, war der Beginn der Todesmärsche von KZ-Häftlingen quer durch den Harz. Noch kurz vor Kriegsende waren im Harz mehrere Konzentrationsaußenlager eingerichtet worden, deren Häftlinge Zwangsarbeit Untertage und für die Rüstungsindustrie verrichten mussten. Dazu gehörte das Konzentrationslager Mittelbau-Dora bei Nordhausen, bestehend aus 40 Lagern, die über den Südharz verteilt waren. Im März 1945, kurz vor Ende des 2. Weltkriegs, näherten sich alliierte Truppen dem Harz. Die SS räumte daraufhin die Lager, indem die KZ-Häftlinge tage-, manchmal wochenlang, zu Fuß und mit Eisenbahntransporten über den Harz getrieben wurden.

Am 4. April wurde das KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen geräumt. Mehr als 40.000 Häftlinge wurden in meist offenen Vieh- und Kohlewaggons oder zu Fuß durch Nordwestdeutschland geschickt. Kälte, Hunger und Durst quälten die geschwächten Gefangenen. Ein massenhaftes Sterben auch auf den Bahntransporten war die Folge.

Eingepfercht in Güterwaggons

Am Abend des 5. April 1945 wurden dann die letzten 4.000 KZ-Häftlinge in einem aus ca. 50 Güterwaggons bestehenden Zug aus dem Lager Mittelbau-Dora abtransportiert. Die Fahrt von Nordhausen nach Osterode dauerte zwei Tage. Am Osteroder Südbahnhof endete jedoch der Transport, da die Weiterfahrt wegen eines Luftangriffs auf den Bahnhof nicht mehr möglich war. Ein Großteil derjenigen, die am Abend des 7. April 1945 mit dem Zug aus Nordhausen am Südbahnhof in Osterode ankamen, waren Widerstandskämpfer gegen die Diktatur der Nationalsozialisten, politische Gefangene, Juden, Zeugen Jehovas und Homosexuelle. Sie mussten nach ihrer Ankunft am Bahnsteig antreten. Diejenigen, die nach Tagen ohne Verpflegung an den Kaiserteich stürzten, um ihren Durst zu stillen, wurden von SS-Bewachern erschossen. Schätzungen gehen von 50 bis 70 Toten aus.

Am Morgen des 8. April 1945 wurden rund 3.500 „Gehfähige“ in Marsch gesetzt. Die Menschenkolonne war zwei Kilometer lang. Es ging von Osterode über Lerbach und Clausthal-Zellerfeld bis nach Oker. 34 km quer durch den Harz. „Wer nicht mithalten konnte, wurde erschossen. Gefangene, denen die Flucht gelang, wurden zum Teil von Einheimischen verraten oder verfolgt“, schreibt Firouz Vladi, einer der Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft „Spurensuche in der Südharzregion“. Er ist Mitautor der 2022 in 3. Auflage erschienenen Broschüre „Das Wegzeichenprojekt Westharz und der Marsch des Lebens – Eine Spurensuche auf den Routen der Todesmärsche der KZ-Häftlinge vom April 1945 im Westharz und über das Gedenken an ihre Leiden und Opfer“. „Der ganze Harz ist ja voller klarer Bäche“, berichtet ein Häftling, der die Tortur überlebt hat, „aber wer aus dem Bach trinken wollte, kam nicht mehr hoch, wurde erschossen.“ (aus „Das Wegzeichenprojekt Westharz, 2022: Interview mit dem ehemaligen Häftling F. von J. Neander, 1993).

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Mehr als 10.000 dieser KZ-Häftlinge haben die Todesmärsche nicht überlebt. Sie verhungerten, verdursteten oder erstickten. Wurden erschlagen, erschossen, bei lebendigem Leib verbrannt oder starben an Krankheiten wie Typhus. Die Überlebenden erreichten schließlich den Bahnhof Oker. Dort pferchte man sie in Güterwaggons. Es folgte eine Irrfahrt durch die heutigen Bundesländer Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Sie endete am 14. April 1945 im Konzentrationslager Ravensbrück.