Osterode. Gedenktag an Opfer des Nationalsozialismus: Religionsgemeinschaft erinnert an Verfolgung. Todesmärsche führen 1945 durch den Harz.

Der 27. Januar: Es ist ein Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Soldaten befreit. Mehr als eine Million Menschen waren allein in Auschwitz zwischen März 1942 und November 1944 in einem beispiellosen Vernichtungswillen ermordet worden. „Auschwitz“ steht heute als Begriff für den nationalsozialistischen Rassenwahn.

Die Jehovas Zeugen im Harzumland erinnern anlässlich des Nationalen Gedenktages an Opfer und Verfolgte ihrer Religionsgemeinschaft, die es auch in der näheren Umgebung gab. Die „Erinnerungsreise“ startet in der Ausstellung der Gedenkstätte Mittelbau Dora bei Nordhausen und trifft auf drei Opfer, stellvertretend für viele, auch in unserer Region.

Dora Birnbaum, geb. Kluge, so steht es auf einer Tafel, wurde am 27. September 1892 in Oederan (Sachsen) geboren. Sie verteilte 1936 in Dresden Protestbriefe gegen die Verfolgung der Zeugen Jehovas durch die Nationalsozialisten. Die Religionsgemeinschaft wurde 1933 verboten. Sie wurde verhaftet und war seit 1938 in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert.

Nach der Räumung des KZ Auschwitz transportierte die SS Dora Birnbaum über das KZ Bergen-Belsen am 4. März 1945 in das KZ Mittelbau Dora. Am 11. April 1945 wird sie in Nordhausen befreit. Nach dem Krieg wurde Dora Birnbaum zunächst als „Opfer des Faschismus“(OdF) anerkannt. Nach dem Verbot der Zeugen Jehovas in der DDR im Jahre 1951 wurde ihr der Status entzogen und die Hilfsgelder gestrichen. Sie starb 1966.

Weiter geht es in den Westharz nach Bad Grund. An der B 242 gegenüber dem Höhlen-Erlebnis-Zentrum Iberger Tropfsteinhöhle führt ein Weg zu der Gedenktafel für Bernhard Döllinger. Als Zeuge Jehovas wurde er im Sommer 1944 verhaftet, zunächst kam er in das KZ Buchenwald und später dann in das KZ Bad Gandersheim (Kloster Brunshausen), ein Außenlager von Buchenwald. Am 5. April befand sich der kranke und erschöpfte Bernhard Döllinger auf dem Todesmarsch zum KZ Dachau. Ein SS-Mann schoss auf ihn und warf Döllinger den steilen Hang hinunter, wo er verstarb. Genau an dieser Stelle findet man die Gedenktafel.

Der französische Schriftsteller Robert Antelme, selbst Häftling in diesem Lager, erinnert in seinem Buch Das Menschengeschlecht als Augenzeuge an die Verbrechen der Nazis auf diesem Todesmarsch.

Weiter nach Moringen. In der Nähe von Northeim, entstand 1933 in einem „Werk- oder Arbeitshaus“ eines der ganz frühen KZs. Zunächst Männer-KZ, dann zwischen 1933 bis 1938 ein Frauen-KZ. Mitten im Ort waren während der Zeit etwa 1350 Frauen inhaftiert, zeitweise stellten die Zeuginnen Jehovas fast 90 Prozent der Inhaftierten. Auf Anregung von SS-Führer Reinhard Heydrich wurde von Juni 1940 bis Kriegsende ein Jugend-KZ für männliche Jugendliche im Alter von 13-22 Jahren eingerichtet. Jonathan Stark hat dort die Häftlingsnummer 1140. Der 17-jährige stammt aus Ulm und hat die Kunstmalerschule absolviert. Aufgrund seines Glaubens als Zeuge Jehovas hat er danach beim Reichsarbeitsdienst den Eid „auf Führer und Staat“ verweigert. Am 23. November 1943 wurde er verhaftet und kam Anfang 1944 in das Jugend-KZ Moringen. Im Herbst 1944 in das KZ Sachsenhausen verschleppt, als Todeskandidat mit der sogenannten „Totenuniform“ gekennzeichnet und in Block 14 untergebracht, wurde Jonathan Stark dort am 1. November 1944 im Alter von 18 Jahren durch den Strang hingerichtet.

Im Bundestag forderte am 13. Januar 2022 Erhard Grundl (Bündnis90/Die Grünen) in Vertretung der Kulturstaatsministerin Claudia Roth eine Kultur der Erinnerung und eine weitere Aufarbeitung der NS-Diktatur. Grundl sagte: „Es braucht ein Mahnmal für die verfolgten und ermordeten Zeugen Jehovas.“

Am 4. April wurde das KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen geräumt. Mehr als 40.000 Häftlinge wurden in oftmals offenen Bahnwaggons oder zu Fuß durch Nordwestdeutschland geschickt. Kälte, Hunger und Durst quälten die geschwächten Gefangenen. Ein massenhaftes Sterben auch auf den Bahntransporten war die Folge. Etwa 3.500 Häftlinge, die am 8. April 1945, über den Harz getrieben wurden, gehörten zum sogenannten „Letzten Transport“ des Lagers Dora. Etwa 50 Güterwaggons waren zusammengestellt worden, um die letzten 4.000 Insassen des Lagers Dora nach Neuengamme zu transportieren. Schon während der zweitägigen Fahrt von Nordhausen nach Osterode ermordeten die SS-Bewacher Dutzende von Häftlingen, so in Tettenborn und am Osteroder Südbahnhof, wo die Weiterfahrt nach einem Luftangriff auf den Bahnhof nicht mehr möglich war.

So wurden die Gefangenen zu Fuß über den Harz getrieben. Am frühen Morgen des 8. April 1945 ließ die SS am Osteroder Südbahnhof etwa 3.500 Häftlinge vor den Waggons antreten und sie anschließend unter SS-Bewachung durch Osterode, Freiheit und Lerbach in Richtung Clausthal-Zellerfeld marschieren zu lassen.

Anschließend wurde die Kolonne über Schulenberg in das Okertal getrieben. Schließlich erreichten die Überlebenden dieses Todesmarsches den Bahnhof in Oker. Dort wurden sie in Güterwaggons gepfercht. Nun schloss sich eine Irrfahrt durch die heutigen Bundesländer Sachsen-Anhalt und Brandenburg an, die am 14. April 1945 im KZ Ravensbrck endete.

Heute erinnern Steelen an der Strecke an die damaligen Todesmärsche durch den Harz.

„Jüdinnen und Juden wehrten sich machtvoll“ – Lesung und Diskussion mit Achim Doerfer und Daniel Kempin als Online-Stream

Zu einer Bündnisveranstaltung anlässlich des Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus mit Lesung und Diskussion mit Achim Doerfer und Daniel Kempin (musikalische Begleitung) wird heute, dem 27. Januar, 19.30 Uhr eingeladen.

Die Veranstaltung findet statt als öffentlicher Online-Stream. Zusätzlich wird es einem kleinen Publikum möglich sein, die Veranstaltung im Alten Rathaus in Göttingen unter Einhaltung von 2G-Plus-Bedingungen und FFP2-Maske am Platz zu besuchen.

Zum Ende der aktuellen Veranstaltungsreihe zum Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus wird Achim Doerfer aus seinem neuen Buch „Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen“ vorlesen. Achim Doerfer ist stellvertretender Vorstand der Jüdischen Gemeinde Göttingen und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Göttingen. Musikalisch begleitet wird die Veranstaltung von Kantor Daniel Kempin. Er wird eine gemeinsam mit Achim Doerfer getroffene Auswahl jiddischer Widerstandslieder vortragen. Aufgrund der stark begrenzten Anzahl von Sitzplätzen ist eine Anmeldung erforderlich per Mail an info@gcjz-goettingen.de oder telefonisch: 0551/2054746.

Als Nachkomme von Überlebenden der Shoa forscht Autor Doerfer zum jüdischen Widerstand und kommt zu einem Ergebnis, das im klaren Widerspruch steht zur offiziellen Erinnerungs- und Gedenkkultur, die den Opferstatus von Jüdinnen und Juden festschreibt: Die Opfer der Shoa seien, klagend zwar, doch ohne Gegenwehr in den sicheren Tod gegangen. Falsch, stellt Doerfer klar: „Jüdinnen und Juden wehrten sich machtvoll. Im Widerstand durch Partisanen, in Getto und Konzentrationslager, in vielen Ländern Europas.“

In den Armeen der Alliierten. Trotz Verfolgung von zwei Dritteln der Jüdischen Weltbevölkerung kämpfte etwa ein Zehntel gegen NS-Deutschland. Vor und nach 1945 übten sie Rache an NS-Tätern und planten gar Taten gegen die Deutschen insgesamt. Doerfer prangert das gewollte Versagen der Nachkriegsjustiz an, das verhinderte, dass Millionen von Opfern Gerechtigkeit erfuhren. Systematisch wurden die Verbrecherinnen und Verbrecher verschont, im Gegenteil wurde die große Masse der Täterinnen und Täter wieder in Gesellschaft, Politik und Staatsdienst integriert. So blieb den Überlebenden weder in der west- noch der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft eine Perspektive, eine wahrhaftige Versöhnung wurde unmöglich.

Auch im Privaten wurden die monströsen Verbrechen beschwiegen, vielen Täterinnen und Tätern in der Familie sogar widerständiges Handeln angedichtet. So fand in der Alltagskultur ein Bruch mit den Versatzstücken der NS-Ideologie nie statt – und heute wundert sich die Gesellschaft, woher all der Rassismus, Antisemitismus und die Verschwörungsmythen vermeintlich aus dem Nichts wieder auf die Straßen und durch das Internet schwappen.

Für eine wahrhaftige Versöhnung wäre die Bestrafung der Täterinnen und Täter und deren tätige Reue vonnöten gewesen, meint Doerfer. Ebenso müsste im Zentrum der Gesellschaft, dem familiären und räumlichen Nahumfeld der Täterinnen und Täter, eine ehrliche und faktenbasierte Auseinandersetzung stattfinden. Ohne diesen Diskurs blieben Gedenkreden fromme Phrasen, jeder Appell gegen ein Wiedererstarken der extremen Rechten einzutreten, inhaltsleer.

Seit 1997 organisiert ein breites regionales Bündnis eine Vielzahl sehr unterschiedlicher erinnerungspolitischer Veranstaltungen. Sie beginnt traditionell am 9. November mit der Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Reichspogromnacht am Platz der ehemaligen Synagoge. Die Reihe endet am 30. Januar mit einem Stadtrundgang der Geschichtswerkstatt Göttingen e.V. zur Geschichte Göttingens im Nationalsozialismus.

Der Link zum Stream am heutigen 27. Januar 2022, dem Gedenktag der Opfer, wird veröffentlicht auf der Webseite des Bündnisses unter der Adresse https://gedenken-an-die-opfer-des-nationalsozialismus.de/januar-2022.php#27_1_2022.