Osterode. Forscher aus Göttingen haben seit Mitte April eine Umfrage darüber geführt, wie die Situation während der Krise in den Dörfern ist. Das Ergebnis.

Das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) ist mit einer Umfrage im ländlichen Raum Südniedersachsens unterwegs. Dort haben die Wissenschaftler seit Mitte April nachgefragt, wie die Situation in den Dörfern während der Coronakrise aussieht.

Natur, Ruhe und Platz – mit diesen Attributen beschrieben Gesprächspartner aus südniedersächsischen Dörfern nahezu einstimmig, was sie am „Landleben“ besonders schätzen. Sie hoben jene Charakteristiken ländlich gelegener Wohnorte hervor, die in der aktuellen Krisenlage neue Begehrlichkeiten wecken. Wer auf großem Raum wohnt und die Natur vor der Haustür hat, kann Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen vermeintlich gelassener begegnen als in einer beengten Wohnung ohne Balkon. Abstandhalten gestaltet sich in dünn besiedelten Gegenden vergleichsweise mühelos. Die Eigenheimquote im ländlichen Raum ist mit 80 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in der Stadt, ein Großteil erfreut sich der Frühlingstage am eigenen Garten. Während die Städte in der Coronakrise den Atem anhalten, atmen die Dörfer tief durch.

Der ländliche Raum als pandemisches Refugium

Laut Aussagen der Forscher in ihrem Diskussionspapier begegne man in den Dörfern der pandemischen Lage besorgt – und dennoch, so scheint es, mit einer gewissen Gelassenheit. Leistungen und Angebote der täglichen Versorgung seien in einigen Ortschaften lange nicht mehr vorhanden. Für Einkäufe, Arztbesuche, Behördengänge und Kulturprogramm müssen Distanzen in Kauf genommen werden. Möglicherweise bewirke die gewohnte räumliche Entfernung, dass die Einschränkungen des öffentlichen Angebots im Dorf weniger einschneidend erlebt werden.

Die Befragten heben hervor, dass viele Dörfer in der Krise auf gefestigte soziale Strukturen zurückgreifen können. In der Nachbarschaft und vor allem im regen Vereinsleben findet ohnehin ein regelmäßiger Austausch statt, der in der Krise intensiviert wird. In den von den Forschern untersuchten Dörfern gibt es zahlreiche Unterstützungsangebote aus der Zivilgesellschaft, während sich die Nachfrage aktuell noch gering hält. Auch die oftmals starke Ritualisierung des Dorfalltags bewirkt offenbar eine Strukturierung. Wenig Anonymität gibt in der Krise Sicherheit, man achtet aufeinander. Der ländliche Raum scheint an vielen Orten wie ein pandemisches Refugium zu sein.

„Doch in unseren Nachfragen bekommen wir nicht nur ländliche Idylle geschildert. Denn unter dem Verlust von Orten der Begegnung bröckelt auch die Alltagsstruktur. Der Dorfalltag wird in der alten Normalität wesentlich durch das Kirchen- und Vereinsleben und die damit zusammenhängenden informellen Treffen bestimmt. Wo es den Mitgliedern an sozialen Kontakten mangelt, fehlt es den Gesangs-, Schützen- und Sportvereinen in den Kassen. Eintrittsgelder bleiben aus, laufende Kosten bestehen“, heißt es vonseiten der beiden Autoren des Diskussionspapiers, Maike Simmank (M.A.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am SOFI, und Prof. Dr. Berthold Vogel, geschäftsführender Direktor.

Demnach wird die öffentliche Infrastruktur einer Gemeinde als wichtig erfahren. In vielen Dörfern ist sie direkte Ansprechpartnerin, die für private wie gemeinschaftliche Probleme und Fragen oft schnelle, informelle Lösungen findet. In der Krise lässt der kurze, unbürokratische Weg schnelles Reagieren zu. Bürgermeister und Gemeindeverwaltung werden zu Koordinatoren und Vermittlern, die individuelle Situationen in der Dorfgemeinschaft überblicken. Positive Urteile über die öffentliche Hand finden sich in starkem Maße gerade auf dem Land.

„Fraglich bleibt in unseren Gesprächen jedoch, wie belastbar die Unterstützungsleistungen auf Dorfebene dauerhaft sind. Möglicherweise besteht und funktioniert die große Hilfsbereitschaft nur bei kleineren Herausforderungen des Alltags und solange nur wenige von der Epidemie betroffen sind. Für die Stabilität sozialer Strukturen bleibt es daher wichtig, dass öffentliche Institutionen vor Ort handlungsfähig sind – von der Gemeindeverwaltung bis zur Caritas“, schreiben sie.

Aktualität gleichwertiger Lebensverhältnisse

Sie hätten erfahren, dass die lokale Versorgung aktuell privatwirtschaftlich gesichert wird: Mobile Angebote wie etwa das Bäckerauto, Pflegedienste und Reinigungskräfte versorgen die Dörfer weiterhin. Auch die Handwerksbetriebe erleben offenbar starke Nachfrage. Sie haben in einigen Dörfern trotz Ausbruch der Pandemie „Aufträge ohne Ende“. Die Beobachtungen zeigen, dass die gewohnte Versorgung im Dorf gesichert ist, solange die lokale Ökonomie mit den mobilen und flexiblen Angeboten läuft.

Und weiter: „Alles in allem setzt die Pandemie die Aktualität gleichwertiger Lebensverhältnisse auf ein neues Level. Teilhabe und Chancengleichheit haben sich selten deutlicher im Vorhandensein (bzw. im Fehlen) von flächendeckender Daseinsvorsorge und Infrastruktur gezeigt. Die dringende Notwendigkeit einer stabilen, flächendeckenden Internet- und Mobilfunkverbindung wird spätestens im Krisenmodus unbestreitbar: Arbeits- und Schulalltag spielen sich derzeit zu großen Teilen im digitalen Raum ab – ergo: Homeoffice und Online-Schulunterricht müssen auch auf dem Land umsetzbar sein!“

Simmank und Vogel erklären: „Unsere Nachfragen und Recherchen in Corona-Zeiten machen einmal mehr deutlich, dass das Thema Gleichwertigkeit kein akademisches Thema ist, sondern die Alltagswelt aller Menschen in der Stadt und auf dem Land betrifft. Technischen und sozialen Infrastrukturen kommt in der Krise eine neue Bedeutung zu. Die aktuelle Debatte um die zukünftige Steigerung inländischer Produktion von Medikamenten und systemrelevanten Gütern, aber auch um die neue Attraktivität regionaler Produkte bringt den ländlichen Raum als Wirtschaftsraum ins Spiel. Vor allen Dingen ist der ländliche Raum aber Wohn- und Sozialraum, in dem Menschen leben und (gleichwertig) versorgt werden wollen.“

Die Zukunftsfragen der Gesellschaft spielten auf dem Land: Die Versorgung mit Energie und mit Nahrung, die Artenvielfalt, die Alterung der Gesellschaft oder die Gestaltung lokalen Zusammenhalts. Vieles spräche dafür, dass in der Coronakrise der ländliche Raum neu entdeckt werde – nicht nur als Nutzfläche für die Versorgung der Städte, sondern als Ort der Innovation für Wirtschaft und Gesellschaft.

Die Autoren resümieren: „Das Ergebnis unserer kurzen Recherche beruhigt, macht aber auch die Notwendigkeit politischer Gestaltung deutlich. Denn wir sehen, dass nicht Panik, sondern Gelassenheit und Geduld den Umgang mit der Pandemie im ländlichen Raum bestimmen. Diese Stabilität unterstreicht aber auch, dass die Frage nach Gleichwertigkeit und Gemeinwohl neue Aktualität erhält!“

Corona in Osterode- Ein Überblick über die Situation vor Ort