Pöhlde. Das Leben vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Schulbeginn: Ein Zeitzeuge aus Pöhlde erinnert sich an kindliche Naivität und leichtsinnigen Unfug.

In einem weiteren Bericht erinnert sich der Zeitzeuge Hermann Wiese an die Zeit vom Kriegsende im Mai 1945 bis er im November 1945 endlich wieder in Pöhlde zur Schule gehen konnte. Die Jungen haben dabei in ihrer kindlichen Naivität allerlei leichtsinnigen Unfug angestellt. Alles andere als harmlos war dabei zum Beispiel das Abfeuern von Waffen.

„Die Ängste vor Angriffen aus der Luft und die täglichen Aufgaben wie Schule und Dienst im Jungvolk verbunden mit Hilfsaktionen gehörten der Vergangenheit an. Wir, die zehn- bis zwölfjährigen Jungen trafen uns, um die Feldmark zwischen Pöhlde und Herzberg nach Relikten zu erkunden. Hierzu zählte besonders Kriegsgerät wie Panzer“, erzählt Hermann Wiese.

„Wunderland“ in alter Baracke

Eines Nachmittags bekam Wiese den Tipp, das ehemalige Gelände des „Heeres-Ersatz-Bau-Magazins“ auf dem Gelände des Kieswerkes an der Bahnstrecke Herzberg-Pöhlde wäre eine Schatzgrube. Nach Überquerung der Oder auf einer provisorischen Holzbrücke führte ihn sein Weg in eine langgestreckte Verwaltungsbaracke.

Hier stieß er auf eine vollständige Büroeinrichtung. In der Baracke sah es so aus, als hätten die Angestellten die Räumlichkeiten kurzfristig verlassen. In der ersten großen Halle war Werkzeug aller Art in hohen Regalen exakt gelagert – es sei wie in einem „Wunderland“ gewesen.

Mühselig schleppte der Zwölfjährige zwei Sägen, einen Fäustel, eine große Kneifzange und ein Handbeil nach Hause. „Dort fielen dem Opa bald die Augen aus dem Kopf und er fragte: Woher kommt das alles?“, erzählt Hermann Wiese. An den folgenden Tagen wurden in weiteren Hallen Farben, Lacke, Elektroartikel und als Notartikel Nägel gefunden und wegen des Gewichtes mit einem Kuhgespann nach Hause gebracht.

Dort ergab sich die Frage, woher diese Sachen in der Zeit allgemeiner Knappheit stammten. Da Lkw für andere Aufgaben dringender benötigt wurden, konnte die Logistik nur per Bahn über das Anschlussgleis geliefert worden sein. Später habe sich der Zeitzeuge gewundert, wie schnell die Hallen noch im Jahr 1945 abgebaut und abtransportiert wurden; vom wem, blieb offen.

Kinder finden Panzer und Waffen

Im Bahngarten fanden Hermann Wiese und seine Freunde unter anderem einen zurückgelassenen Panzer älterer Bauart und einen Schützenpanzerwagen. Dieser wurde zurückgelassen, als er sich im Bahngraben festgefahren hatte. Das Bord-MG und eine intakte Stielhandgranate fanden die Jungs versteckt im Bahngraben.

Als nächstes entdeckten sie eine auf dem Überholgleis abgestellte Lok. „Der Führerstand zog uns wie ein Magnet an, die Hebel ohne Wirkung bedienen zu können war unbeschreiblich“, sagt Hermann Wiese. Auf dem großen Kohlentender entdecken die Jungs zwei Zündeinrichtungen, die sie mit gezielten Steinwürfen zur Explosion brachten. Danach war zunächst Verstecken angesagt.

Fischen mit der Handgranate

Als Nächstes wurde das versteckte MG schießbereit gemacht. Mit einer langen Leine, die am Abzug befestigt war, wurde dann eine kurze Salve – Richtung Westen – abgefeuert. „Just in diesem Augenblick näherte sich aus Richtung Herzberg ein Lkw, auf dem befreite Polen eine rot-weiße Fahne schwenkten.“ Bevor diese die Lok erreichten, hatten die Jungen sich im nahe gelegenen Birkenwald versteckt und verzichteten zunächst auf weitere Aktionen. Dann gab es eine neue Idee. Sie hatten gesehen, wie die „Amis“ mit Eierhandgranaten in der Oder „gefischt“ hatten. „Nur hatten wir auch eine Grenze gezogen, an Granaten, Geschossen und Panzerfäusten stand für uns ein großes: Stopp! Diese Dinger waren für uns tabu“, erzählt Wiese.

Aber das Fischen mit der gefundenen Stielhandgranate im Wiedensee reizte die Gruppe doch. Mit der Unterstützung eines französischen Fremdarbeiters, zu dem sie ein freundschaftliches Verhältnis hatten, setzten sie die Idee schließlich um. Groß war die Enttäuschung, als es außer einem kräftigen Knall und einer meterhohen Wasserfontäne keine Fische zu sehen gab.

„Die Angst vor Luftangriffen und die täglichen Aufgaben waren vorbei. Wir Jungen trafen uns, um die Feldmark nach Relikten zu erkunden“, erinnert sich Zeitzeuge Hermann Wiese an die kindliche Erleichterung im Jahr 1945.
„Die Angst vor Luftangriffen und die täglichen Aufgaben waren vorbei. Wir Jungen trafen uns, um die Feldmark nach Relikten zu erkunden“, erinnert sich Zeitzeuge Hermann Wiese an die kindliche Erleichterung im Jahr 1945. © HK | Paul Beier

Viel Arbeit machte auch die Einebnung von Stellungen amerikanischer Panzerhaubitzen auf der Wiese des Großvaters. „Mit einer Spitzhacke musste mühselig Erde gelöst und mit unserem ,Kuhwagen’ zur Wiese transportiert und in den Spuren und Stellungen verfüllt werden. Letztendlich mussten wir feststellen, dass unsere Bemühungen ein ,Tropfen auf einem heißen Stein’ gewesen waren“, erinnert sich Hermann Wiese.

In der Hinterlassenschaft der Amerikaner in den Geschützstellungen fand er unter anderem zwei Kartuschen mit einem Durchmesser von 15 cm aus reinem Messing, die Wiese mitnahm, um sie später zu verkaufen.

Dazu kam es leider nicht, weil jemand anders zwischendurch schneller war.

Gefährliche Experimente

Mit gefundenen Treibladungen wurde dann am Eckernloch experimentiert. Bei einer Explosion mit einer meterhohen Stichflamme wurde die Gruppe vermutlich von jemanden beobachtet, der die amerikanischen Besatzungssoldaten informierte. Diese fanden aber nichts Auffälliges.

Ein weiteres aufregendes Gelände war der Baustellenneubau des Umspannwerkes, wo die Jungen gern spielten. Wieses Erzählung über den Fund von Panzergranaten – Blindgänger auf den Wiesen der Familie und deren Versenkung in einem tiefen, mit Wasser gefüllten Erdfall – lassen dem Zuhörer bildlich gesprochen die Haare zu Berge stehen.

Eskorte für die Tante

Im Mai 1945 musste Hermann Wiese als „männlicher Schutz“ seine Tante mit dem Fahrrad zu einer Apotheke nach Gieboldehausen begleiten. Dort sollte ein dringend benötigtes Medikament abgeholt werden. Unterhalb der „Paßhöhe“ war die Straße bedingt durch einen umfangreichen Sprengtrichter unpassierbar. Nach einer mühsamen Kletterei mit den Rädern ging es dann weiter. Auf dem Rückweg nahmen Hermann Wiese und seine Tante den Umweg über einen Forstweg und kamen erschöpft, aber wohlbehalten wieder in Pöhlde an.

„Als im Juni die Hütezeit der Gänse voll in Gang gekommen war, erinnerte sich einer aus der Gruppe an die bei der Baustelle Umspannwerk Steinbreite gefundenen ,Zündhütchen’. Nach vielerlei Überlegungen fiel die Wahl für eine Sprengung auf eine ehemalige ,Deponie’, auf der Haushalts- und Gebrauchsgegenstände sowie Haushaltsabfälle verfüllt oder verbrannt wurden.“

Beim Verbrennen der Zündhütchen, was die Jungen aus sicherer Entfernung beobachteten, gab es mal wieder eine kräftige Detonation. Als neugierige Badegäste vom Eckernloch sich dem Ort des Geschehens näherten, hatten sich die Jungen bereits entfernt.

Viel Arbeit mit den Gänseküken

Ab Ende April hatte Hermann Wiese alle Hände voll mit der Betreuung der geschlüpften Gänseküken zu tun. Eine wichtige Aufgabe war das Suchen von geeignetem Futter wie frischen Brennnesseln. „Klein gehackt und mit Hafergrieß vermischt dienten die Brennnesseln als ,Säuglingsnahrung’ für die Küken“, erzählt Wiese. Als Nestflüchter waren die Küken bald in der Lage, im „Gänsemarsch“ mit zum Rötesumpf zu gehen.

Shorts aus alter Fahne

Im Einzelnen schildert Wiese den Umgang mit den Küken, der ihm und seinen Freunden viel Arbeit machte. Die Hütezeit dauerte meist von 8.30 bis 18 Uhr. Unterbrochen wurde sie, wenn gegen 14 Uhr die Mutter etwas zu Essen brachte, was die Jungen als „Magerkost“ bezeichneten. Freuen konnten sie sich, als aus den „Pileken“ dann Gösseln wurden. Damit waren sie keine Beute mehr für Habichte und Bussarde.

Die Nicolai-Schule in Herzberg am Harz hatte früher einen Hauptschulzweig. 1944 war Hermann Wiese hier noch zur Schule gegangen.
Die Nicolai-Schule in Herzberg am Harz hatte früher einen Hauptschulzweig. 1944 war Hermann Wiese hier noch zur Schule gegangen. © HK | Paul Beier

„Bei schönem Wetter verbrachte unsere Clique viel Zeit im Wasser. Unsere Bekleidung bestand aus einem Leinenshort, das aus einer ehemaligen Hakenkreuzfahne angefertigt worden war. Wir waren tiefbraun und mein Haar war von Sonne und Wasser blond gebleicht“, erinnert sich der Zeitzeuge. Um die Langeweile zu verdrängen, wurden Höhlen gebaut, in denen man sich bei schlechtem Wetter aufhalten konnte. „Als Zwölfjähriger trug ich über den gesamten Sommer die Verantwortung dafür, dass alle 20 Gänse die Zeit wohlbehalten überstehen“, so Hermann Wiese. Ab dem Herbst wurden die Tiere in einem Verschlag hinter dem Holzstall gehalten und ordentlich gemästet. An den späteren Schlachtungen nahmen die Jungen nicht teil. Da es noch keine Gefriereinrichtungen gab, war Einkochen angesagt.

… und dann wieder Schule

„Dass unsere sorglose Zeit einmal vorbei sein würde, führte man uns im November vor Augen. Ein Schulbetrieb wurde ins Leben gerufen. Anfangs kamen wir zweimal in der Woche zusammen, um Hausarbeiten abzuholen. Nach und nach hatte man die Klassenräume mit ,Kanonenöfen’ ausgerüstet, da Koks für die Heizungsanlage nicht vorrätig war. Jeder Schüler, der es konnte, hatte täglich einen Holzsplitter mitzubringen, um damit den Ofen zu beheizen. Im Klassenraum waren zwei Jahrgänge zusammengetan. Unser Klassenlehrer war Herr Fischer, ein strenger, aber erstklassiger Pädagoge, dem ich viel zu verdanken habe“, so Wiese.

„Wer kann schon ein Kriegsende und einen Neuanfang erleben? Ich für meine Person erinnere mich noch oft an diese Zeit“, sagt Hermann Wiese abschließend.