Herzberg. Michael Reinboth stellt in seinem Buch „150 Jahre Eisenbahnstrecke Northeim – Nordhausen“ den Herzberger Bahnhof vor.

Am 1. Dezember 2018 wurde die Eisenbahnstrecke Northeim-Herzberg 150 Jahre alt, am 1. August 2019 hat dann die gesamte Strecke Northeim-Nordhausen Jubiläum. Michael Reinboth vom Geschichtsverein in Walkenried hat aus diesem Anlass ein Buch veröffentlicht, in dem viele besondere Ereignisse aus der Zeit des Baus und aus 150 Jahren Bahnbetrieb auf der Strecke zusammengetragen sind (wir berichteten). Ein Kapitel befasst sich mit dem Herzberger Bahnhof und der Geschichte des Güterverkehrs: Vom Grenz- und Rangierbahnhof zum Knotenpunkt des Holztransports. Wir geben es hier in Auszügen wieder:

„Als Fahrschüler mit einem ausgeprägten Interesse an der Eisenbahn wurde es einem auf dem Herzberger Bahnhof nie langweilig“, beginnt Reinboth seine Darstellung. „Das lag aber weniger am Personen- als vielmehr an dem ausgeprägt vielseitigen Güterverkehr und vor allem am Rangierbetrieb, der sich vom Inselbahnsteig zwischen den Gleisen 2 und 4 gut beobachten ließ. Man war gewissermaßen mittendrin.“

Die Lokomotiven der angekommenen Güterzüge aus Richtung West und Ost kuppelten ab und rollten zum Restaurieren in Richtung Lokschuppen, am Zug wurden die Bremsschläuche abgehängt und die Kupplungen, wo nötig, „langgemacht“. Geheimnisvolle Zettel wurden verteilt und am Stellwerk an einen kleinen Haken gehängt und hochgezogen. Eine Rangierlok, zumeist eine V100 oder V60, schleppte den Zug dann über den Ablaufberg, das Abdrücksignal wurde gestellt und schon rollten die ersten Wagen in die Gleise des Güterbahnhofs hinab, wo sie von den Rangierern mit Hemmschuhen erwartet wurden. Manchmal ging dabei etwas schief, ein Hemmschuh flog zur Seite und der Waggon lief mit recht hohem Tempo auf die schon im Gleis befindlichen auf. Rrumms! Es krachte ordentlich, aber irgendwann war alles dort, wo es hinsollte: Nach Ellrich, nach Hamm, nach Göttingen. Zwischendrin überquerten Zollbeamte die Gleise, um sich mit angekommenen Waggons aus der DDR oder solchen in Richtung DDR zu befassen. Ab und zu tauchte die Rangierlok auf der anderen Bahnhofsseite auf, um eine lange Reihe von Stückgutwagen vom Güterschuppen abzuholen. Im Nahverkehr kamen aus Osterode, Scharzfeld, Bad Lauterberg, Walkenried und Siebertal Züge von beachtlicher Länge zusammen und wurden in Herzberg zu Durchgangsgüterzügen zusammengestellt.

Holzverladung der Firma Reimann. Aktuell verlassen wöchentlich mindestens zwei Ganzzüge den Herzberger Bahnhof.
Holzverladung der Firma Reimann. Aktuell verlassen wöchentlich mindestens zwei Ganzzüge den Herzberger Bahnhof. © NLF | Jörg Sonnabend

Ihre Rolle als „Jobmotor“ für den Südharz hat die Eisenbahn weitgehend eingebüßt. Wer heute mit dem Zug Herzberg in östlicher Richtung verlässt oder, auf dem Bahnsteig auf einen Anschluss wartend, die großen Flächen des alten Rangierbahnhofs überblickt, kann von diesem umfangreichen Treiben nichts mehr erkennen. Einige wenige Gleise liegen noch, sie dienen der nächtlichen Abstellung von Triebwagen der DB Regio oder Güterzügen, die hier einen Zwischenstopp einlegen. Der „Eselsrücken“ des Ablaufbergs ist auch noch da, aber gleislos. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands entfiel 1990 die Notwendigkeit der zolldienstlichen Behandlung, fast alle Tarifpunkte im Südharz wurden geschlossen, und durchgehende Güterzüge nehmen inzwischen vorwiegend den Weg über Eichenberg. Aus und vorbei. Dank einer sehr innovativen Harzer Firma aus der Holzlogistik „brummt“ es allerdings immer noch dort, wo einst die Güterabfertigung stand. Hier, im „Privatbahnhof“ der Bad Harzburger Firma Reimann, lässt sich tageweise beachtlicher Verlade- und Rangierbetrieb beobachten.

Interzonen-Güterzüge

Die „hohe Zeit“ des Herzberger Rangierbahnhofs währte von 1958 bis zum Anfang der neunziger Jahre. 1958 nämlich wurde die Zollabfertigung der Interzonen-Güterzüge von Walkenried nach Herzberg verlegt, so dass zolldienstliche Behandlung und Rangiergeschäft an einer Stelle stattfinden konnten. Hier rollte nun nichts mehr durch. Zeitweise wurden täglich mehr als 20 Güterzüge aufgelöst und neu gebildet, und das auf recht wenigen Gleisen. Bis 1945 hatte Herzberg im Güterverkehr eine lokale Funktion und wurde von den sehr zahlreichen Güterzügen der West-Ost- und Ost-West-Richtung im Regelfall durchfahren. (…)

Was durch Herzberg rollte, hatte die Rangierbahnhöfe Soest im Westen oder Nordhausen, Halle (Saale), Leipzig-Wahren und Falkenberg (Elster) zum Ziel oder als Startpunkt. (...) Es gab aber auch illustre Züge wie den Fracht- und Eilgutzug 6302, der von Bodenbach (heute Decin vychod) an der tschechischen Grenze bis nach Aachen West durchlief, und seinen Gegenzug 6301. Beide legten die gesamte Strecke in etwas mehr als 24 Stunden zurück, durchfuhren dabei jedoch Herzberg ohne Halt. „Der“ Rangierbahnhof im Südharz schlechthin war damals Nordhausen mit täglich mehr als 100 ankommenden, umzubildenden und abfahrenden Güterzügen. (...)

Nach dem kriegsbedingten Hoch und der abrupten, von 1945 bis zum Ende der Berliner Blockade währenden Unterbrechung lief der „Interzonen-Güterverkehr“ langsam wieder an und entwickelte sich zu einem letztlich stabilen Geschäft, dass, zwar schwankend, aber doch immer vorhanden, dem Herzberger Güterbahnhof neben dem stark gewachsenen lokalen Aufkommen neue Aufgaben bescherte und ganz entscheidend zu den für 1968 beispielhaft genannten 115 Arbeitsplätzen des Bahnhofs beitrug – zu denen noch die des Lok- und Zugpersonals, des Zolls und der Serviceeinrichtungen hinzuzuzählen sind. Für den Zoll werden zum Beispiel 1983 12 Beschäftigte erwähnt. (...)

Betrieb rund um die Uhr

Natürlich war der Bahnhof rund um die Uhr in Betrieb! Eine größere Pause gab es lediglich in der Nacht von Samstag auf Sonntag und am Sonntag bis gegen Mittag. Da die Reichsbahn ihre Güterzüge unabhängig vom Wochenende schickte, mussten diese dann umgebildet und gen Westen weitergeleitet werden. Der damalige Bahnhofsvorsteher Joachim Gießner gibt die Zahl der über den Herzberger Ablaufberg gelaufenen Waggons für 1971 mit 254.669 und für 1972 mit 263.551 an. Mit der Deutschen Reichsbahn wurden 1971 67.900 und 1972 77.700 Waggons ausgetauscht. Laut Gießner wurden 1971 40 und 1972 48 Güterzüge täglich behandelt, was mit den Angaben aus dem Buchfahrplan für 1971 genau übereinstimmt. 1973 rollten täglich bis zu 1.000 Waggons über den Ablaufberg, eine für den doch eher kleinen Rangierbahnhof enorme Zahl.

Heute leider kaum noch vorstellbar ist auch, was sich auf den kleineren Bahnhöfen abspielte. In Walkenried werkelte die Kleinlok den ganzen Tag herum, bediente neben dem „Rübengleis“ für den Culemeyer die Güterabfertigung (noch war Walkenried Stückgutbahnhof) und die Laderampe, wo unter anderem Koks für Zorge aus- und Formsand für Gießereien eingeladen wurde. Auch das Anschlussgleis zur „Walkenrieder Gipsfabrik“ erfreute sich regen Betriebs. Zwischendurch fuhr die Lok mit einigen Waggons nach Bad Sachsa und Tettenborn, sogar Osterhagen, um Wagen abzuliefern oder abzuholen. Am Ende des Tages war zumeist ein Güterzug beachtlicher Länge und Tonnage beisammen. Nicht ohne Grund schickte man eine 44er den Berg hinauf, um ihn abzuholen.

Ein Rangierlokomotive der Baureihe V 60 im Herzberger Bahnhof.
Ein Rangierlokomotive der Baureihe V 60 im Herzberger Bahnhof. © HK | Reinboth

Für 1968 gibt es Zahlen: Walkenried empfing 705 Waggons mit 12.404 Tonnen und versandte 2.289 Waggons mit 43.703 Tonnen, in Bad Sachsa waren es 221 Waggons mit 3.236 Tonnen im Empfang und 1.141 Waggons mit 21.736 Tonnen im Versand. Macht immerhin 4.356 beladene Waggons im Jahr oder 15-20 beladene Waggons pro Tag. Hinzu kamen noch etliche Waggons der damals noch bedienten Tarifpunkte Osterhagen und Tettenborn. Auch in Scharzfeld und Bad Lauterberg und natürlich in Osterode nahmen noch einige Betriebe die Dienste der Bahn in Anspruch. Nach und nach trat der Lkw an ihre Stelle, wobei diese nur allzu schnell bereit war, Bahnhöfe in der Fläche aufzugeben und – wie beim Stückgut – selbst auf die Straße zu gehen.

Die Dampfloks der Baureihen 44 und 50 wurden in Herzberg grundsätzlich restauriert, d.h. ihre Kohlen- und Wasservorräte wurden im Lokbahnhof ergänzt. Gedreht werden konnten sie nicht, so dass in jeweils einer Richtung immer mit Tender voraus gefahren werden musste. Aber auch „Exoten“ wie die V 36, eine frühere Wehrmacht-Diesellok, machten sich in und um Herzberg seinerzeit noch nützlich. Was die Eisenbahn in der Fläche im Güterverkehr an Bedeutung eingebüßt hat, kann man sich anhand dieser Zahlen recht gut vorstellen. Es kamen ja noch die Herzberger Gleisanschließer wie Homann oder Pleißner hinzu. (...)

Letzter klassischer Güterzug

Der gestiegene Bedarf führte zum Neubau einer Güterabfertigung nebst Büros für den Zoll, der 1977 in Betrieb genommen wurde. (...) Zuletzt bildete Herzberg überregional Güterzüge nach Hamm, Bebra und Seelze. Nach Aufgabe der Zugbildung rollte als letzter klassischer durchgehender Güterzug bis Mitte der neunziger Jahre einer von Göttingen nach Nordhausen ohne Halt durch den Bahnhof. Mit dem Rückbau der verwaisten Gleise wurde aber erst sehr viel später begonnen.

Die völlig anders geartete Verkehrspolitik in der DDR und die in den letzten Jahren vor der Wende infolge hoher Ölpreise erzwungene Rückverlagerung von Gütertransporten auf die Schiene bescherten dem östlichen Abschnitt der Südharzstrecke bis zum Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion Mitte 1990 ansehnlichen Güterverkehr, zu dem neben dem Reichsbahn-Ausbesserungswerk in Woffleben und den Gipswerken und der Sandgrube in Ellrich vor allem die umfangreiche Verladung von Anhydrit am Kohnstein in Niedersachswerfen beitrug. (...) Inzwischen ist der lokale Güterverkehr in Ellrich ebenso wie der in Walkenried trotz unzweifelhaft vorhandener größerer Versandmengen der Gipsindustrie vollständig zum Erliegen gekommen. (...)

Die unter Hartmut Mehdorn forcierte Kahlschlagpolitik im Güterverkehr in der Fläche und das Programm „MORA C“, verbunden mit der massenhaften Aufgabe von Tarifpunkten, hinterließen auch im Südharz tiefe Spuren. Wenn noch etwas läuft, dann mit Hilfe privater Güterbahnen. Denn dass es auch anders geht, zeigt die Entwicklung auf der nördlichen Herzberger Bahnhofsseite. Hier waren einst die Güterabfertigung und zuletzt auch der Zoll beheimatet, außerdem befanden sich dort auch die Freiladegleise für den Herzberger Lokalverkehr. 1988 wurde indes der Stückgutverkehr von Herzberg und Osterode auf die Straße verlegt und die Güterhalle somit obsolet.

Holzverladung

Die Bad Harzburger Holzgroßhandlung Reimann kaufte im Jahr 2003 hier einige Gleise und Lagerflächen von der Bahn, die seither einschließlich eines Auszuggleises auf der alten Strecke nach Siebertal als privater Güterbahnhof dienen. Nach dem Abriss des leerstehenden Gebäudes der Güterabfertigung im Jahr 2017 hat man zusätzliche Flächen gewonnen und kann nun mehrmals pro Woche bis zu 600 Meter lange Züge mit Holz aus dem Harz beladen. Das Geschäft läuft dabei so ab, dass zunächst per Lkw über längere Zeit hinweg große Polter angelegt werden, die dann nach Ankunft des Leerzuges mittels mehrerer zugleich aktiver Lkw-Umladekräne relativ zügig – und wenn es sein muss auch bei Dunkelheit - auf die Waggons verladen werden, wobei die Zuglok die anfallenden Rangieraufgaben übernimmt und den kompletten Zug zusammenstellt.

In diesen Stunden herrscht tatsächlich wieder lebhafter Betrieb auf dem Güterbahnhof. Die Holzzüge verlassen Herzberg im Regelfall in Richtung Northeim und Göttingen, um von dort Ziele, sprich Sägewerke, in Süddeutschland und Österreich anzusteuern. Nur dort gibt es noch welche. Die Abwicklung des Bahnbetriebs obliegt hierbei einer privaten Güterbahn, denn ginge es nach der Deutschen Bahn und ihrer Cargo-Politik, gäbe es weder diesen Verladebahnhof noch diese Art von Zügen (...) Aktuell (2018) verlassen wöchentlich mindestens zwei Ganzzüge den Herzberger Bahnhof. Weitere Holzverladebahnhöfe unterhält die Firma Reimann in Langelsheim und in Stadtoldendorf.