Bad Lauterberg. Bernd Langer hat einen Artikel über „100 Jahre Abwehr des Kapp-Putsches am Beispiel Bad Lauterberg“ erarbeitet und uns zur Verfügung gestellt.

Im gesamten Reich hat sich die Spaltung der sozialdemokratischen Bewegung nach der Novemberrevolution 1918 vertieft. Auf der einen Seite existiert die gemäßigte, eher dem bürgerlichen Lager zuzuordnende SPD, während die Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die beim Umsturz eine entscheidende Rolle gespielt haben, sich um die proletarische Revolution betrogen fühlen. Die politischen Entwicklungen in den großen Städten bilden sich auch in der Provinz ab. Ein Beispiel gibt Bad Lauterberg, wo ab April 1919 eine USPD-Ortsgruppe in Erscheinung tritt, deren Anhängerschaft größer ist als die der SPD. Zwar findet am 1. Mai 1919 noch eine gemeinsame Maifeier mit der SPD statt, doch dann trennen sich die Wege.

Wirtschaftlich ist die Lage angespannt, selbst Lebensmittel sind knapp und der Schleichhandel grassiert. Besonders hart sind die lohnabhängigen Schichten betroffen, die keine Wucherpreise zahlen können. Schuld an den steigenden Lebensmittelpreisen tragen nach Ansicht vieler Arbeiter Kurgäste und andere „Nichtstuer“. Es kommt vor, dass Gästen die Koffer geöffnet und durchsucht werden.

Die Situation eskaliert

Am 11. August eskaliert die Situation, als eine Kundgebung aus dem Ruder läuft. Nach Ansprachen vor dem Rathaus bricht die hungernde Menge zu einer Spontan-Demonstration durch die Hauptstraße auf. Verdächtige Läden werden gestürmt und nach gehorteter Ware durchsucht. Bei etlichen Kaufleuten, Schlachtern usw. wird illegale Ware entdeckt. Die sichergestellten Lebensmittel werden am nächsten Tag zu festgesetzten Preisen verkauft.

Arbeiterschaft und Bürgertum stehen sich in zwei Lagern gegenüber. Die aus der Kaiserzeit herrührende Privilegierung der bürgerlichen Klasse ist zwar formal durch das gleiche, allgemeine Wahlrecht und andere rechtliche Gleichstellungen aufgehoben, aber man lebt immer noch in den alten Klischees und bleibt vor allem sozial getrennt.

Entscheidender Höhepunkt

Einen entscheidenden Höhepunkt erfährt dieser Konflikt im Zuge der Abwehrmaßnahmen gegen den Kapp-Putsch. Die überraschende Nachricht vom Putsch in Berlin erreicht eine öffentliche Versammlung der USPD im Kursaal. Die Partei hat dort am Samstag, dem 13. März 1920, als prominenten Referenten Karl Aderhold, Mitglied der Nationalversammlung, aus Hannover zu Gast. Nach den Meldungen vom Einmarsch der Marinebrigade Ehrhardt in die Reichshauptstadt wird die Veranstaltung unterbrochen. General Walther von Lüttwitz und Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp haben die Macht an sich gerissen. Die Regierung Ebert/Bauer ist nach Dresden entkommen, von wo aus sie wenig später weiter nach Stuttgart flieht.

Während „Reichswehr nicht auf Reichswehr schießt“, wie es General von Seeckt von der Reichswehrleitung formuliert, antwortet die Arbeiterschaft auf diesen ersten rechtsradikalen Putsch mit einem Generalstreik, dem sich auch Beamtenschaft und selbst Geschäftsleute anschließen. An diesem Widerstand und der Unfähigkeit der Putschisten scheitert der Umsturz bereits am 17. März. Doch das Land ist in Unruhe, Arbeiterwehren wollen ihre Waffen nicht mehr ohne größere politische Zugeständnisse abgeben, manche glauben gar, die Stunde der Revolution sei gekommen. In der Region um Halle, im Ruhrgebiet und an anderen Orten führt das zum Bürgerkrieg. Die Auswirkungen dieser Bewegung spielen sich auch in der Provinz ab.

Obwohl die Streikparole seit dem 13. März im Umlauf ist, setzt der Streik in Bad Lauterberg erst am Montag, dem 15. März, mit voller Wucht ein. An diesem Tag bestimmen USPD, SPD und Gewerkschaften im Schützenhaus einen Vollzugsrat, der ausschließlich aus Mitgliedern von USPD und SPD besteht. Als Leitungsgremium wird ein engerer Vollzugsrat gewählt, der aus fünf USPD- und einem SPD-Mitglied besteht. Da nun die Arbeiterschaft für Ruhe und Ordnung sorgen will, wird eine Volkswehr aufgestellt sowie eine Überwachungskommission für den Magistrat und eine Kommission zur Regelung des Ernährungswesens eingesetzt. Bad Lauterberg ist damit in der Hand der sozialistischen Arbeiterparteien.

„Schutzmaßnahme für Lauterberg“

Mittels eines Flugblatts veröffentlicht der Vollzugsrat seine Anordnungen. Sämtliche Fabriken und Kaufhäuser müssen ihren Betrieb einstellen. Außerdem werden alle Genossen, die das 20. Lebensjahr erreicht haben, aufgefordert, „zur Bekämpfung der reaktionären Regierung“ in die Volkswehr einzutreten. Um die Bewaffnung zu gewährleisten, sollen sämtliche Hand- und Schusswaffen an die Volkswehrkommission abgegeben werden, was als „Schutzmaßnahme für Lauterberg gegen etwaige Überfälle von Seiten reaktionärer Truppen“ gedacht ist. Allerdings wird die Forderung, die Waffen abzuliefern, von Teilen des Bürgertums ignoriert. Die Volkswehr richtet ihr Hauptquartier im Schützenhaus ein. Der Magistrat ist von den Ereignissen überrumpelt und erklärt sich zunächst mit den Maßnahmen des Vollzugsrates einverstanden.

Die in Bad Lauterberg aufgestellte Volkswehr besteht ausschließlich aus sozialistisch eingestellten Arbeitern. Ihr Hauptquartier ist das Schützenhaus, heute Hotel Riemann.
Die in Bad Lauterberg aufgestellte Volkswehr besteht ausschließlich aus sozialistisch eingestellten Arbeitern. Ihr Hauptquartier ist das Schützenhaus, heute Hotel Riemann. © Illustration | Bernd Langer

Unter dem Motto „Der Kampf gegen die Reaktion“ ruft die USPD am 15. März um 20 Uhr zu einer Volksversammlung im Kursaal auf. Der Saal ist übervoll. Verschiedene Redner bringen eine entschlossene und radikale Stimmung zum Ausdruck. Auch die anwesenden SPD-Mitglieder lassen sich davon mitreißen. Allerdings führt das Auftreten des Vollzugsrats zu Konflikten mit dem Bürgertum. Der Magistrat gedenkt nicht, seine Befugnisse an die sozialistische Arbeiterschaft abzutreten, und der Bürgermeister spricht dem Vollzugsrat die Legitimation ab.

Die Stimmung zwischen den politischen Lagern in Bad Lauterberg wird immer gereizter. Doch ist die sozialistische Arbeiterschaft in Bad Lauterberg in der Mehrheit und zudem bewaffnet. So patrouilliert die Volkswehr durch die Stadt, nimmt Durchsuchungen nach Waffen und gehortete Lebensmitteln vor, die an Bedürftige verteilt werden.

Informationslage unklar

Am 18. März wird bekannt, dass der Putsch wegen des Generalstreiks gescheitert ist, die Regierung Ebert/Bauer übernimmt wieder die Geschäfte, Gespräche zur Beendigung des Streiks werden aufgenommen. Noch bleibt die Informationslage allerdings unklar.

Währenddessen treffen in Bad Lauterberg Nachrichten von Kämpfen zwischen Reichswehr und Arbeiterwehren im knapp 150 Kilometer entfernt liegenden Halle ein. Außerdem soll sich im Ruhrgebiet eine Rote Ruhrarmee konstituiert haben. Um das Blutvergießen zu beenden, werden Verhandlungen eingeleitet. Ein Resultat ist der Rücktritt von Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) am 22. März. Daraufhin bricht auch die USPD den Generalstreik ab. Nur im Ruhrgebiet eskaliert die Situation, und vereinzelt gibt es noch weitere Städte und Regionen, in denen die Kampfmaßnahmen länger durchgeführt werden – zu denen, die am längsten durchhalten, gehören die Arbeiter in Bad Lauterberg.

Bereits am 17. März hat General Walter von Hülsen, der Chef der 10. Reichswehrbrigade in Hannover, an den Landrat in Osterode ein Telegramm gesandt. Einerseits gibt der General darin seiner Hoffnung Ausdruck, „dass auch in dem mir unterstellten Gebiet der bedauernswerte Streik sein Ende nehmen wird“, anderseits sind die Behörden damit in Kenntnis gesetzt, dass das Militär zum Einmarsch bereit steht. Spätestens seit dem 22. März ist der Magistrat in Bad Lauterberg über dieses Telegramm informiert. Am selben Tag verfügt General Hülsen, dass alle Schusswaffen sowie Munition und Sprengmittel von den Gemeindebehörden einzusammeln sind. Wenig später bekräftigt der Landrat diese Verordnung, was mittels Zeitungsanzeige und Flugblatt bekannt gemacht wird. Doch die Arbeiterwehr gibt ihre Waffen nicht ab und bleibt auf dem Posten.

Bauern in Scharzfeld bewaffnen sich

Daraufhin schließen sich die bürgerlichen Parteien in Lauterberg zusammen und erklären, ihrerseits für „Ruhe und Ordnung“ sorgen zu wollen. Außerdem bewaffnen sich die Bauern im Dorf Scharzfeld. Die Scharzfelder geben vor, sich gegen Überfälle der Sozialisten aus Lauterberg verteidigen zu wollen und stehen als Verstärkung für die Reichswehr gegen „die Roten“ zur Verfügung.

Am 26. März werden Vertreter des Lauterberger Magistrats, darunter auch Funktionsträger der SPD, im Rathaus in Herzberg zusammengerufen. Offiziere der Reichswehr geben bekannt, dass am nächsten Tag eine großangelegte Entwaffnungsaktion im Südharz anläuft. In Bad Lauterberg seien die Waffen bis 10 Uhr abzugeben, im anderen Fall würden Zwangsmaßnahmen erfolgen. Der Einsatz der Reichswehr bezieht sich auf verschiedene Orte, so marschieren 400 Soldaten in Herzberg ein, wo ebenfalls Waffen sichergestellt werden. Ziel und Schwerpunkt der Operation ist aber Bad Lauterberg.

Bad Lauterberg ist umstellt

Am Morgen des 27. März, einem Samstag, wird das Harzstädtchen umstellt. Zeitzeugen berichten von Geschützen auf dem Butterberg. In der Stadt profiliert sich Senator Steckhahn (SPD), der bereits bei den Gesprächen am Vortag mit den Reichswehroffizieren Kontakt aufgenommen hat, als Waffeneinsammler. Das macht keine Probleme, denn die Angehörigen der Volkswehr sehen ein, dass es keinen Sinn hat, gegen die Reichswehr anzutreten. Kurz nach 10 Uhr meldet Steckhahn, die Waffen seien eingesammelt, und Reichswehr marschiert in die Stadt. Von den Soldaten werden an den Ortseingängen mit spanischen Reitern gesicherte Kontrollposten aufgestellt und an strategischen Punkten in der Stadt MGs in Stellung gebracht. Dann erfolgen Hausdurchsuchungen bei linken Aktivisten. Die Entwaffnungsaktion dauert eine Stunde. Anschließend zieht sich die Reichswehr in das für sie angenehmere Scharzfeld zurück und biwakiert auf dem Mühlenplatz.

Mit der Entwaffnung ist der Streik in Bad Lauterberg beendet und am Montag, dem 29. März, wird die Arbeit wieder aufgenommen. Gravierend wirken sich die Ereignisse auf das Verhältnis zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum aus, sowie auf das Verhältnis zwischen USPD und SPD. Die Linken werfen der SPD Verrat vor, selbst Maifeiern werden ab jetzt getrennt durchgeführt. Als Folge der Radikalisierung wird die KPD-Ortsgruppe Lauterberg gegründet, zu der bald sehr viele USPD-Mitglieder übertreten.