Braunschweig. 2000 Fans würdigen den Rock-Veteran bei seinem Abschieds-Gastspiel in der Volkswagen-Halle. Ein Abenteuer reizt den 80-Jährigen noch.

Meldungen der Deutschen Presseagentur vom vergangenen Sonntag: „Sugar Baby“ Peter Kraus wird 85. Dieter „Maschine“ Birr von den Puhdys 80. Rockstar-Muse Pattie Boyd (79) versteigert Erinnerungsstücke an ihre Ex-Männer George Harrison und Eric Clapton. Achim Reichel, der Ende Januar seinen 80. Geburtstag gefeiert hat, macht derweil auf seiner Abschiedstournee „Schön war es doch“ in der Braunschweiger Volkswagen-Halle Station. Die Gründer-Generation der Rockmusik ist weit übers Rentenalter hinaus, aber, sofern sie überlebt hat, immer noch aktiv. Kann ein Veteran wie Reichel auch mit 80 noch überzeugen, sogar mitreißen?

„Fliegende Pferde“ heißt der erste Titel des Abends. Einer seiner kleineren Hits, 1989 erschienen, eine Sehnsuchts-Ballade mit den typischen Ingredenzien des Hamburger Sängers und Songschreibers: relaxter Beat, einprägsame Textzeilen, hanseatisch lakonisch melancholisch, getragen von einer satten Bassstimme, die Souveränität und reichlich Lebenserfahrung suggeriert, abgesehen davon, dass sie einfach toll klingt. „Fliegende Pferde landen am Strand /
Sie kamen über‘s weite Meer / keiner weiß woher“.

„Der Spieler“ – dank Jörg Fauser einer der stärksten Achim-Reichel-Songs

Der Song „Der Spieler“, den Reichel kurz darauf anstimmt, ist lyrisch noch stärker. Den Text schrieb der Autor Jörg Fauser (1944-1987), mit dem Reichel Anfang der 80er Jahre zusammenarbeitete. Eine coole, abgründige Blues-Ballade über einen abgebrannten Typen, der alles auf die 17 setzt, in einem verschneiten Casino am Rande des Meeres, das für das Versprechen von Glück, aber auch für den Untergang steht und schon dunkel rauschend nach ihm ruft.

Rund 2000 Fans in der mit schwarzen Vorhängen gekonnt verkleinerten Volkswagen-Arena, viele wie Reichel mit der Rockmusik groß und alt geworden, lauschen aufmerksam. Der Veteran ist mit einer dreiköpfigen Bläsergruppe unterwegs, die gekonnt blitzende Akzente setzt und solistisch brilliert, wenn sie von der Leine gelassen wird. Auch die anderen drei Bandmitglieder verkörpern keine klassische Rockbesetzung: Yogi Jockusch spielt Percussions statt Schlagzeug, Gitarrist Nils Tuxen vor allem Slide-Gitarre, Achim Rafain grundiert entspannt am Bass.

Die Band groovt lässig und aufgeregt, allerdings auch etwas unaufregend

Es ist eine versierte Truppe gestandener Musikprofis, die auch altersmäßig gut zu Reichel passt. Die Sieben grooven lässig und unaufgeregt, allerdings in der sehr entspannten Grundgestimmtheit nahezu aller Stücke auch ein wenig unaufregend. Wenn niemand mehr etwas beweisen muss, hält sich eben auch der Vorwärtsdrang in sehr vernünftigen Grenzen.

Reichel stimmt den ganzen Abend über keinen Song seiner ersten Band an, der deutschen Beatpioniere The Rattles, auch nicht seiner nächsten Gruppe Wonderland oder aus seiner Krautrock-Phase mit A.R. & Machines. Er zelebriert sein Werk als Solokünstler seit Mitte der 70er Jahre, das stilistisch allerdings auch weit gespannt ist. Es reicht von schnoddrigen Schlagern wie „Steaks, Bier und Zigaretten“ über verrockte Shantys und munter folkige Gedichtvertonungen wie „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ hin zu politisch engagierten Songs („Exxon Valdez“) und seinem größten Hit „Aloha Heja He“, der mittlerweile sogar in China populär wurde.

Wie Achim Reichel die schaurige „Regenballade“ einer Hitler-Verehrerin interpretiert

Nicht an einem Genre klebenzubleiben, sondern immer wieder Neues zu versuchen, ist mit der Zeit zu Reichels Markenzeichen geworden. Kritisch könne man sagen, es sei nicht ganz klar, wofür er eigentlich stehe, meint er selbst. „Aber du kannst nicht über Jahrzehnte dasselbe Pferd reiten. Das tut einem ja leid irgendwann.“ Er habe halt seinen eigenen Kopf – und bei allen nicht unriskanten stilistischen Wechseln auch immer mal wieder einen Treffer gelandet.

Stark gelingen ihm und der Band in der VW-Halle die schaurige „Regenballade“ aus seiner Phase der Vertonung romantischer deutscher Gedichte. Sie erzählt von einem Gesellen, der sich im morastigen, nebelverhangenen Wald verirrt, wo ihn der „Schnatermann“ in sein Reich locken will, ein rohe Fische und Schlangen verschlingender Unhold. Das märchenhaft abgründige Gedicht stammt übrigens von der Braunschweiger Dichterin Ina Seidel (1885-1974), die bis zum Jahr 1945 eine glühende Verehrerin des Unholds Adolf Hitler war.

„Bier, Steaks und Zigaretten“ singt die Volkswagen-Halle im Chor

Am meisten Stimmung kommt in der VW-Halle bei Reichels flotteren Folksongs auf, wie der rasant gespielten Fontane-Vertonung vom über den Tod hinaus Birnen verschenkenden Menschenfreund „Herr Ribbeck“ oder der amerikanischen Ode „John Maynard“ an den sich für die Passagiere eines brennenden Schiffes opfernden Steuermann. Auch bei „Bier, Steaks und Zigaretten“ und natürlich „Aloha heja he“ wird munter mitgesungen. Überschäumend wirkt die Begeisterung allerdings nicht, dafür ist der musikalische Drive zumeist zu gedrosselt und das Programm zu resümierend rückwärtsgewandt. Es gibt auch keine nennenswerte Lichtshow auf der geschmackvoll, aber statisch dekorierten Bühne – und die in die Jahre gekommenen Musiker bewegen sich allenfalls vorsichtig im sanften Beat.

Reichels Publikum in der VW-Halle genießt und würdigt gemütlich sitzend gut zwei Stunden das umfangreiche Lebenswerk eines bodenständigen Musikers, der über 60 Jahre produktiv in der deutschen Rockszene mitmischte, wenn auch meist nicht in der allerersten Reihe. Und dessen markanter Bass immer noch trägt. Zumal es vielleicht die letzte Gelegenheit war, das Hamburger Urgestein live zu erleben.

Aloha Heja He – geht Achim Reichel noch in China auf Tournee?

Obwohl, wer weiß. Er habe zuletzt tatsächlich die Anfrage für eine China-Tournee erhalten, erzählt Reichel. „Na ja, erstmal bringen wir die Abschiedstour über die Bühne.“ Reizen, das spürt man, würde den Veteran so ein Abenteuer immer noch.

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