Braunschweig. „Bei Erwachsenen kann man nicht dagegen sein“, so der Sänger vor dem Start seiner Abschiedstour. Am 17. März spielt er in Braunschweig.

Achim Reichel, der sich selbst als „Vater der deutschen Rockmusik“ bezeichnet, hat sich im Gespräch mit den Funke Medien Niedersachsen für die von der Bundesregierung beschlossene Legalisierung von Cannabis ausgesprochen. Jugendliche sollten nicht zu früh damit in Berührung kommen. „Aber dagegen, dass Cannabis Erwachsenen erlaubt sein soll, kann man eigentlich nichts haben“, so Reichel. Er habe zeitweise ganz gern an „Kräuterzigaretten“ gezogen. „Es gehört zum Künstlertum dazu, dass man versucht, seinen Erfahrungshorizont zu erweitern.“ Reichel, der am 28. Januar seinen 80. Geburtstag feierte, gründete mit The Rattles 1960 eine der ersten deutschen Beatbands. In den 70er Jahren wurde er mit A.R. & Machines zum Krautrock-Vorreiter, bevor er auf Vertonungen von Shantys und Gedichten umstieg. 1991 brachte er mit „Aloha heja he“ seinen größten Hit heraus. 30 Jahre später stürmte das Lied durch ein TikTok-Video die chinesischen Charts. Nach mehr als 60 Jahren auf der Bühne startet der Rock-Veteran am 9. März in Kiel seine Abschiedstournee. Am 17. März macht er in der Volkswagen-Halle Braunschweig Station. Wir sprachen vorab mit ihm.

Sie waren mit The Rattles ein deutscher Beat-Pionier, in den frühen 70ern mit A.R. & Machines ein Krautrock-Vorreiter, dann sind Sie plötzlich auf verrockte Shantys und Gedichte umgestiegen. Sie haben viel ausprobiert. Gibt es etwas, das Sie bereuen?

Meine ganze Karriere war im Grunde ein einziger Selbsterfahrungs-Trip. In der Nachkriegszeit lag ja alles am Boden, nicht nur die Ruinen, in denen wir gespielt haben, sondern auch die Kultur. Man lebte als Deutscher geduckt mit einer bösen Vergangenheit. Da wirkte der Rock’n‘Roll aus Amerika wie ein ungeheuer frischer Wind. Die Rattles waren meine musikalische Kinderstube. Aber ich wollte irgendwann mehr ausdrücken als „Come On And Sing“. Ich war und bin absolut geprägt von rockigen Rhythmen, und die habe ich dann einfach übertragen. Auf Shantys beispielsweise, aber eben auch auf Balladen wie Goethes „Zauberlehrling“. So konnte man diese tollen Gedichte klanglich in die Gegenwart holen. Ich sah keinen Grund, wegen unserer Greueltaten in der Nazizeit Jahrhunderte von Kultur in die Tonne zu treten. Meine Platten wurden dann ja sogar für den Deutschunterricht verwendet. Und „Der Zauberlehrling“ ist einfach prophetisch. Wir Menschen erfinden die tollsten Dinge, aber bedenken die Folgen nicht. Jetzt schwimmt mehr Plastikmüll im Meer als Fische.

Achim Reichel (links) bei einem Auftritt mit The Rattles in der ZDF-„Show ohne Rahmen“ im Deutschland frühen 1960er Jahre.
Achim Reichel (links) bei einem Auftritt mit The Rattles in der ZDF-„Show ohne Rahmen“ im Deutschland frühen 1960er Jahre. © picture alliance / United Archives/schweigmann | Schweigmann

Sie haben Rockmusik als Sound der Befreiung, der Liberalisierung erlebt und mit ins Land getragen. 60 Jahre später scheint sich die Gesellschaft wieder in eine andere Richtung zu drehen. Hat der Rock als Medium der Freiheit ausgedient?

Die Zeit steht jedenfalls nie still, auch wenn wir es manchmal gerne hätten. Gott sei Dank sind wir nicht das einzige Land, in dem Rechtspopulismus an Stärke gewinnt. Aber wir sind das Land mit den bösesten Erinnerungen an die Folgen. Man redet immer von Bildung, Bildung, Bildung, und das ist eigentlich auch richtig. Aber das eine ist die Mündigkeit der Leute, und das andere ist, was mit ihnen passiert, wenn sie beispielsweise Angst um ihren Job haben. Ich bin nicht in der Tagespolitik unterwegs, ich suche in der Kultur nach Neuland und Unabhängigkeit. Wenn man sich als Künstler ernst nimmt, darf man sich nicht nur nach dem Markt und dem Zeitgeschmack richten.

Ist das heute schwerer als in den goldenen Zeiten der Plattenfirmen?

Die Musikindustrie war früher auf eine Art und Weise erfolgsverwöhnt, dass die Manager sagten, ach, lass den Reichel mal machen, der kommt zwar manchmal mit merkwürdigen Sachen um die Ecke, aber er trifft auch hin und wieder mal ins Schwarze. Als die Tonträger dann den Bach runtergingen und alle Welt nur noch streamte, war ich zum Glück schon hinreichend etabliert. Andererseits bietet das Streaming auch Chancen. Wenn mir vor 30 Jahren jemand gesagt hätte, du wirst mit „Aloha heja he“ mal einen deutschsprachigen Nummer-1-Hit in China haben, hätte ich dem einen Vogel gezeigt. Nun ist der Song durch einen chinesischen Tiktoker viral gegangen, und ich habe im vergangenen Jahr mehr Geld in China verdient als in Deutschland, obwohl ich nie da war. Meine Autobiografie heißt „Ich hab das Paradies gesehen“. Das ist zufällig eine Zeile aus dem „Aloha“-Song. Aber wenn ich so auf meine Karriere zurückschaue, fühle ich mich manchmal wie Achim im Wunderland.

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In Ihrer Autobiographie deuten sie an, gelegentlich ganz gerne an „Kräuterzigaretten“ gezogen zu haben, um sich zu inspirieren. Was halten Sie davon, dass die Bundesregierung Cannabis jetzt legalisieren will?

Na ja, in den 70ern lag das in der Luft, und es gehört zum Künstlertum dazu, dass man versucht, den Erfahrungshorizont zu erweitern. Selbst von Shakespeare weiß man mittlerweile, dass er Cannabis geraucht hat, weil man seine Pfeifen analysiert hat. Ich habe allerdings gemerkt, ein Allheilmittel ist das nun auch nicht, im Gegenteil. Und wenn junge Leute zu früh damit in Berührung kommen, kann das Schäden im Gehirn verursachen. Dagegen, dass Cannabis erwachsenen Leuten erlaubt sein soll, kann man eigentlich nichts haben. Denen muss man einfach zugestehen, mit einer gewissen Mündigkeit und Selbstverantwortung unterwegs zu sein.

Nochmal zurück zu Ihrem Überhit „Aloha heja he“. Ist ein Song, den Sie vermutlich auf jedem Konzert spielen müssen, eher ein Segen oder ein Fluch?

Vielleicht war es phasenweise anders, aber mittlerweile spiele ich den Song wirklich wieder gerne. Die Leute warten ja nur darauf. Auf meinem Live-Album zur Abschiedstournee singt das Publikum minutenlang allein, mit voller Begeisterung. Wenn ich das auf der Bühne erlebe, bin ich schon stolz, das muss ich ehrlich sagen. Ich grübele dann, Junge, wie hast du das hingekriegt, ein Lied mit einem Zauber, der selbst in anderen Kulturen wie in China funktioniert, in deutscher Sprache. Interessanterweise hat mir ausgerechnet Rio Reiser mal gesagt, der beste Text ist der, der nicht stört. Vermutlich hat er gemeint, dass man emotional viel schneller zu einem Urteil gelangt als mit dem Kopf. Und das scheint mir bei dem Lied irgendwie gelungen zu sein, dass die Emotionen, die der Song vermittelt, alle Sprachbarrieren überspringen. Dabei habe ich „Aloha“ wirklich nicht auf Hit getrimmt, sonst hätte ich in der dritten Strophe die Gonokokken weggelassen und auch die Matrosen am Mast – so was gehört sich ja nicht, nach bürgerlicher Meinung.

Achim Reichel bei einem Konzert im Jahr 2004 im Braunschweiger Raffteichbad.
Achim Reichel bei einem Konzert im Jahr 2004 im Braunschweiger Raffteichbad. © Flentje, Rudolf | Rudolf Flentje

Sie stehen seit mehr als 60 Jahren auf großen Bühnen. Können Sie wirklich ohne die Bühne leben, wenn Ihre Abschiedstournee im Herbst vorbei ist?

Ich bin auch gespannt, wie ich mich dann fühle. Ich weiß nur, dass ich künftig mal ohne feste Verpflichtungen leben will. Ich habe ja eigentlich schon 2019 eine Abschiedstournee gespielt, aber die war so erfolgreich, dass der Veranstalter sagte, du kannst jetzt nicht aufhören. Als wir die Hallen nach Corona wieder gefüllt haben, dachte ich, Achim, musstest du wirklich erst Senior werden, um so erfolgreich sein? Das ist schon eine Freude, weil ich manchmal auch riskant unterwegs war, sowohl meine musikalischen Konzepte als auch meine Lebensführung betreffend. In Zukunft nur die Hände in den Schoß zu legen, wird mir wohl nicht gelingen. Als meine Autobiografie zum „Spiegel“-Bestseller wurde, hat mein Verlag mich gefragt, ob ich nicht weiter schreiben will. Das hat mich schon angetriggert. Und Abschiedstour bedeutet ja auch nicht, dass ich nie wieder mal auf eine Bühne gehe…

Karten für das Konzert von Achim Reichel und Band am Sonntag, 17. März, in der Braunschweiger Volkwagen-Halle ab 58 Euro gibt es unter anderem bei der Konzertkasse.

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