Braunschweig. Das siebte Sinfoniekonzert des Staatsorchesters wartet mit Entdeckungen aus der neuen Welt auf, in denen das alte Europa mitswingt.

Wenn man so will, steht das Programm des siebten Sinfoniekonzerts des Staatsorchesters im Zeichen der kulturellen Aneignung. Huh, ein Begriff wie ein Minenfeld, aber die Reflexion von Ausdrucksformen anderer Kulturen muss nicht unbedingt problematisch sein, wenn sie wertschätzend und auf Augenhöhe geschieht. Wie das bei der Auseinandersetzung US-amerikanischer Komponisten mit der klassischen Musik des alten Europa meist der Fall ist.

Ein spannendes gegenwärtiges Beispiel: das Pianokonzert „Watermark“ der 41-jährigen Komponistin, Geigerin und Sängerin Caroline Shaw. Shaw reflektiert darin auf Beethovens drittes Klavierkonzert, das die Gattung aus dem Virtuosentum hin zum sinfonischen Dialog zwischen Solist und Orchester entwickelte und als Vorgriff auf seine fünfte „Schicksalssinfonie“ gilt. Beide Werke schrieb Beethoven in seiner Lieblingstonart für dramatische Fälle c-moll.

Pianistin Annika Treutler fesselt mit Caroline Shaws „Wasserzeichen“

Shaw entwickelt ihr 2018 uraufgeführtes Werk „Wasserzeichen“ nun wie aus einer Urzelle aus dem von den Orchestermusikern zunächst unisono gesummten Grundton C heraus. Solistin Annika Treutler tupft am Sonntag im Großen Haus des Staatstheaters hohe, kristalline Akkorde hinein, wie Tropfen in eine dunkel schimmernde Oberfläche. Die Stimmung wirkt meditativ, bis das Piano einen einzigen Ton uhrwerkhaft treibend immer wieder anschlägt und damit etwas von Beethovens vorandrängendem Gestus aufnimmt, allerdings unserer Zeit entsprechend monotoner, geradliniger, sequenzierter.

Der klassischen Methode der linearen Exposition, Durchdringung und Weiterentwicklung von Themen gegenüber wirkt Shaws Ansatz flächiger, mehr am vertikalen Experimentieren mit Klängen und Strukturen interessiert. Gelegentlich scheinen markante Beethovensche Motive wie Wasserzeichen durch ihre Klanggewebe hindurch, um dann in kleinere, gleichsam molekülhafte Muster zerlegt zu werden, die repetitiv durch die Stimmgruppen wandern.

Mystisch und humorvoll: Charles Ives „The Unanswered Question“

Der in sich gekehrte zweite Satz erinnert an Minimal Music, bevor ein weiteres prägnantes Beethoven-Zitat den dynamischen dritten Satz einleitet. Solistin Annika Treutler kann hier mit einigen rasanten Läufen glänzen und das Orchester große Klangräume aufziehen, bevor am Ende alles wieder in die Keimzelle des Grundtons C zusammenschnurrt. Viel Beifall für eine spannende, konzentrierte Ensembleleistung und als Zugabe die Pianofassung von Kurt Weills karibisch grundiertem Instrumentalstück „Youkali“.

So experimentierfreudig, aber unverkopft und inspiriert Shaws „Watermark“ wirkt, so mystisch und humorvoll zugleich kommt Charles Ives gut hundert Jahre älterer Siebenminüter „The Unanswered Question“ daher. In ein ätherisch-harmonisches Streichergespinst hinein stellt eine Solo-Trompete sich dissonant reibende, von weiten Intervallsprüngen geprägte, gleichsam existentielle „Fragen“. Ein Holzbläserquartett antwortet jeweils engagiert kakophonisch, wie eine streitende Expertenrunde. Das wiederholt sich mehrfach variiert über dem unbeeindruckt dahinströmendem kosmischen Gleichklang der Streicher, in dem wohl alle Fragen aufgehoben sind.

Florence Price‘ beschwingte „Tänze im Röhricht“

Eingeleitet wird das US-amerikanisch-beschwingte Programm von einer Orchesterfassung der „Dances in the Canebrakes“ von Florence Price (1887-1953). Price war die erste Komponistin of Colour, deren Stücke von renommierten US-Orchestern aufgeführt wurden. Die musikalisch hochbegabte Tochter eines Zahnarztes (der offiziell nur Schwarze behandeln durfte) und einer Musiklehrerin musste sich ihre Erfolge hart erarbeiten und einige private Schicksalsschläge verkraften. Dennoch strahlt die Orchesterfassung der kurz vor ihrem Tod komponierten „Tänze im Röhricht“ eine duftige, in Ragtime-Synkopen schwingende Leichtigkeit aus.

Grimmiger, atemloser, zuweilen schriller, aber rhythmisch nicht weniger mitreißend, tobt sich dagegen die zweite Sinfonie (!) des späteren Wahl-Amerikaners Kurt Weill (1900-1950) aus. Komponiert noch 1933/34 in Paris während seiner Flucht vor den Nationalsozialisten ins US-Exil, klingt sie wie eine turbulente Melange von Weills Ängsten, Wut, aber auch Aufbruchstimmung und Lust an den musikalischen Ausdrucksformen der neuen Welt. Auch das ein Fall von kultureller Aneignung. Wer wollte sie Weill verdenken? Wohl schon gar nicht der New Yorker Dirigent und Wahl-Berliner Garrett Keast, der dieses entdeckungsfreudige Konzertprogramm äußerst schwungvoll, aber präzise leitete.

Noch einmal am 18. März, 20 Uhr, im Großen Haus des Staatstheaters.

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