Braunschweig. Eine JVA zieht um: Die letzten Häftlinge haben das Gefängnis am Rennelberg verlassen. Sie ziehen an den Hauptstandort nach Wolfenbüttel.
Die rote Eisenglocke muss mit. „Das habe ich so entschieden.“ Mit einem Gesichtsausdruck zwischen Konzentration und Wehmut löst der Justizvollzugsbeamte Manfred Langer einige Schrauben, die ihm die Welt bedeuten. Eine enge Welt mit kleinen Fenstern, durch die die Insassen aus ihren Zellen ein kleines Stück Himmel sehen konnten. Auf dass die Sünder zu Gott fänden, wie es den Erbauern des Gefängnisses in der Kaiserzeit vorschwebte.
Zu Gott soll in der JVA-Abteilung am Rennelberg in Braunschweig schon lange niemand mehr finden. Die Kleinkriminellen, Mörder und Diebe sollen vielmehr am Leben teilhaben. Soweit das geht. Allesamt mutmaßliche Verbrecher, das sei betont: Sie gelten als unschuldig – bis zum Beweis des Gegenteils. Denn hier saßen ausschließlich Untersuchungshäftlinge ein. Männer also, die unter dringendem Tatverdacht stehen und meist auf ihren Prozess warten. Und das Urteil.
Aber auch damit ist jetzt Schluss: Nach fast genau 140 Jahren. Die letzten 44 Häftlinge haben den Knast an der Rennelbergstraße am Dienstag verlassen. Das Gefängnis, erbaut in den Jahren 1884 und 1885, schließt. Ziemlich sicher: für immer.
Die Glocke von Manfred Langer ertönte für jeden von ihnen: Ohrenbetäubend, aber doch süß. Zu hören war sie meist, wenn etwas Gutes anstand: Hofgang, Essen – und nur ganz selten ein Notfall, erzählt der Vollzugsmitarbeiter (nie sollten Sie von einem „Wärter“ sprechen, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist).
25 Jahre hat Langer im Rennelberg gearbeitet. „Das Ende tut weh“, sagt der einstige Bundesgrenzschützer. „Es ist ein altes Haus, das mir ans Herz gewachsen ist. Eins mit Charakter.“ Welche Geschichten könnten die Steine in dem baufälligen Knast erzählen? Geschichten von Einsamkeit, von Sehnsucht. Von Reue und Bedauern. Wut und Hass. Schuld und Sühne.
Auf der Suche nach verbotenen Gegenständen im Knast
Christian Menzel klopft an die lindgrüne Holztür der Zelle mit der Nummer 62 und dreht den Schlüssel. „Es geht los“, ruft der 40-jährige Sicherheitsleiter. Seit Monaten planen er und seine Kollegen den Umzug an den Hauptstandort des Gefängnisses in Wolfenbüttel. 16 Kilometer weit weg – und für manche doch eine Welt entfernt.
Insasse Jaroslaw J. (Name geändert) – Bürstenschnitt, graues Sweatshirt und beige Jogginghose – weiß längst Bescheid. Kein Wunder: Am schwarzen Brett hängt die Ankündigung in sechs Sprachen. Er grüßt freundlich, greift eine blaue Plastik-Kiste mit seinen Habseligkeiten und trägt sie, langsam schlurfend, aus dem zweiten Stock ins Erdgeschoss.
Dort verschwindet die Kiste im Rapiscan 620 XR. Ein brusthohes Röntgengerät. Was die Vollzugsmitarbeiter suchen? „Vor allem Drogen, Handys, selbstgebaute Waffen“, sagt Menzel, ein aufgeräumter, freundlicher Mann mit graumeliertem Vollbart und Halbrandbrille. „Hatten wir alles schon.“ Heute bleibt es harmloser: Einer der Insassen hatte eine Suppenschüssel im Gepäck. Entweder sein Herz hing daran. „Oder er hat irgendwas falsch verstanden“, sagt Menzel und grinst.
Während der Röntgenapparat surrt, tasten Menzels Kollegen den Insassen ab. Danach trottet er nach draußen in den Hof. Dort wartet ein gepanzerter Hochsicherheits-Bus, der ihn und 26 weitere Häftlinge nach Wolfenbüttel fährt. Anschließend kehrt der Bus nach Braunschweig zurück. Bis zum Mittag stehen dort alle Zellen leer.
Vor zehn Jahren fiel der Entschluss: Das Gefängnis in Braunschweig macht dicht
Das Ende „des Rennelbergs“, wie er im Volksmund heißt, steht schon lange fest. Vor zehn Jahren beschloss die Landesregierung, das frühere einstige Kreis- und Untersuchungsgefängnis zu schließen. Ein geschichtsträchtiger Ort, mit einem düsteren Kapitel in der NS-Zeit.
Das Land baute darauf, dass die Zahl der Häftlinge sinkt. Doch die Rechnung ging nicht auf. Heute sucht man händeringend Haftplätze – aber in Braunschweig dreht man trotzdem die Lichter ab. Die Sanierung der altersschwachen Gebäude ginge zu sehr ins Geld. Mindestens 30 Millionen Euro wären es bereits vor fast einem Jahrzehnt gewesen. Investiert wurde seitdem nichts. Das Gefängnis, sagt das zuständige Landesministerium, sei für einen zeitgemäßen Justizvollzug ohnehin nicht mehr geeignet. Eng, klamm, verwinkelt. Vom fehlenden Brandschutz ganz zu schweigen.
So geht es in der JVA in Wolfenbüttel weiter
In Wolfenbüttel ziehen Jaroslaw J. und seine Mithäftlinge ins Haus IV. Dort waren früher Männer mit kurzen Haftstrafen untergebracht – und jene, die Geldstrafen nicht zahlen können. Immerhin: Mit Blick auf den Sportplatz.
Möglich wurde das, weil die elf Jahre währende und 25 Millionen Euro teure Sanierung des „Grauen Hauses“ in Wolfenbüttel im Februar zu einem Ende kam. 90 Plätze brachte das. Und somit Raum für die U-Haft aus Braunschweig. Das große Zellenrücken begann.
Durch den Zuzug aus Braunschweig wird es in Wolfenbüttel enger. Was für Sicherheitschef Menzel neue Arbeit bedeutet: Denn das Gesetz schreibt die Trennung von Straf- und Untersuchungshäftlingen vor. Was an zwei getrennten Standorten wesentlich leichter war, sagt er schulterzuckend. „Aber so ist es.“
Das Gefängnis am Rennelberg: Eine Chronologie
1884 wird die neue Rennelbergstraße angelegt, die zum Eingang des Gefängnisses führt. 1885 geht die Haftanstalt als Kreis- und Untersuchungsgefängnis in Betrieb. Untergebracht sind dort Männer und Frauen. In den 150 Zellen finden 296 Personen Platz.
In der Zeit des Nationalsozialismus war das Gefängnis überfüllt. Im Durchschnitt waren hier in dieser Zeit 344 Männern und 50 Frauen inhaftiert. In der NS-Zeit waren hier politische Gefangene wie die Sozialdemokraten Heinrich Jasper und Ernst Böhme inhaftiert. Kriegsgefangene, Zivilisten und deutsche Soldaten warteten auf ihre Hinrichtung.
Seit 2011 ist das Gefängnis nicht mehr selbstständig und gehört zur JVA Wolfenbüttel.
2014 beschloss das Land, die Abteilung Braunschweig zu schließen und an den Hauptsitz der JVA nach Wolfenbüttel zu verlegen. Bis zur Umsetzung dauerte es zehn Jahre. Gründe für die Schließung: Der Sanierungsstau sowie die Annahme, dass zu Zahl der Häftlinge sinken würde. Was leider so nicht eingetreten ist. 2014 wird auch die U-Haft für Jugendliche in Braunschweig aufgelöst. Zuvor war es zu einem angeblichen Missbrauch eines Insassen durch Mithäftlinge gekommen. Seitdem saßen hier nur noch erwachsene Männer in Untersuchungshaft.
Zuletzt waren noch 44 von 143 Haftplätzen in Braunschweig belegt. Mehrfach verzögert sich die Verlegung der letzten Insassen nach Wolfenbüttel. Am 9. April 2024 war es nun soweit.
Wie es mit dem 14.000 Quadratmeter-Gelände im Herzen von Braunschweig weitergeht, steht derweil in den Sternen. Die Mitarbeiter packen ihre Sachen. Ihre Arbeitsplätze ziehen mit in die nahe Lessingstadt. Als Nächstes wird die Sicherheitstechnik im Backsteinbau aus Kaisers Zeiten entfernt. Besenrein übergibt man die Gebäude in einigen Monaten an das Landesamt für Liegenschaften. „So der Plan“, sagt Christian Menzel. Das Land will das Areal verkaufen, erklärt das Liegenschaftsmanagement auf Anfrage.
Für die rote Eisenglocke aus dem Rennelberg wird das nicht das Ende sein. Manfred Langner will ihr in Wolfenbüttel einen neuen Platz suchen. Hofgang und Essen gibt es schließlich auch dort.
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