Braunschweig. Yvonne Schulz kann Licht nicht mehr ertragen und kommt kaum noch aus dem Bett. Ihre Diagnose: ME/CFS. Was verbirgt sich dahinter?

Wenn Yvonne Schulz ihren Kopf dreht, blickt sie auf ihre Vergangenheit. Das Bild eines roten Löschfahrzeugs der Feuerwehr füllt die ganze Wand aus, daneben hängt ihr Feuerwehrhelm. Getragen hat sie ihn schon lange nicht mehr. Richtet sie ihren Blick nach oben, sieht sie die Gegenwart. Rot leuchten die Ziffern einer Digitaluhr als Projektion an der Decke. 13.35 Uhr. Die Zeit schleicht sich in Zahlen durch den Tag.

Yvonne Schulz liegt im Bett, die Haare zurückgebunden, auf dem Kopf ein blaues Cap, die Decke hat sie hoch bis zu den Schultern gezogen. Sie trägt eine FFP2-Maske, ihre Sonnenbrille liegt in Griffweite ebenso wie eine Trinkflasche mit Wasser. Die Jalousie am Fenster ist heruntergelassen, zusätzlich verdunkeln Gardinen das Zimmer. An einem Holzgestell um ihre Matratzen hängen weitere Vorhänge. Je weniger Licht von außen eindringt, desto besser. Sie verträgt kein Licht mehr. Nur eine kleine Lampe auf einem Regal taucht den Raum in ein dämmeriges Gelb.

Yvonne Schulz verbringt ihre Tage in Dunkelheit

23 Stunden am Tag liegt die 44-Jährige in diesem Zimmer, „in der Hälfte der Zeit habe ich noch nicht einmal die Lampe an, weil mich das Licht zu sehr reizt“, sagt sie. Bücher lesen, Fernsehen – das geht nicht mehr, zu lange aufs Tablet schauen auch nicht. An guten Tagen kann sie ein paar Minuten das Handy zur Hand nehmen und Twitter-Nachrichten lesen, kurze Informationshäppchen aufnehmen. Für längere Texte reicht oft die Konzentration nicht. An guten Tagen gehen auch Besuche wie diese – wohl wissend, dass sie sich von dieser Kraft-Anstrengung so schnell nicht erholen wird.

Yvonne Schulz ist an ME/CFS erkrankt, das steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrome – ein sperriger Name für eine schwere, komplexe chronische Erkrankung, die zu besonders schneller und langanhaltender Entkräftung führt und Betroffene oft komplett aus dem Leben katapultiert. Etwa 17 Millionen Menschen sollen weltweit davon betroffen sein, in Deutschland sind es nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS rund 250.000 Menschen, die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch viel höher. Bekannt geworden ist die Krankheit zuletzt vor allem als Post-Covid-Leiden, aber auch andere virale oder bakterielle Infektionen können Auslöser sein – ebenso wie Unfälle, Operationen oder die Einnahme von bestimmten Antibiotika. Es trifft besonders Frauen im dritten und vierten Lebensjahrzehnt, aber auch Männer, Kinder und Ältere. Schule, Arbeiten, Hobbys nachgehen, ein selbstbestimmter Alltag – das ist für Betroffene oft gar nicht mehr möglich.

Nach einem grippalen Infekt kommt Yvonne Schulz nicht mehr auf die Beine

Auch Yvonne Schulz teilt ihr Leben auf in eine Zeit davor und danach. Vor der Erkrankung: Da ist die lebensfrohe, energiegeladene Yvonne, ständig aktiv, engagiert in der Kinderfeuerwehr. Hausfrau, dreifache Mutter mit einem autistisch veranlagten Sohn, die viel allein stemmen muss – ihr Ex-Mann war in der Montage tätig, häufig unterwegs.

Dann der Sturz. Auf dem Weg zu einem Lehrgang fällt sie hin, verletzt sich an der Schulter. Sie kommt in die Reha, zieht sich dort einen grippalen Infekt zu. Zwei Wochen liegt sie zuhause flach. Als sie Anfang 2018 wieder auf das Ergometer steigen will, kriegt sie nach fünf Minuten keine Luft mehr. Ihr wird schwindelig, schwarz vor Augen. Und dann beginnt die Zeit danach. Bei einem Orientierungsmarsch der Feuerwehr kommt Yvonne Schulz mit Ach und Krach über die letzten Meter, als sie danach noch Treppen steigen muss, bleibt ihr komplett die Luft weg.

Das Leben von Yvonne Schulz hat sich auf 12 Quadratmeter reduziert. Es fehlt ihr selbst die Kraft zum Fernsehen oder Bücher lesen.
Das Leben von Yvonne Schulz hat sich auf 12 Quadratmeter reduziert. Es fehlt ihr selbst die Kraft zum Fernsehen oder Bücher lesen. © Bernward Comes

Ein Freund, der im Rettungsdienst arbeitet, fragt besorgt: Was ist los mit Dir? Die Glieder tun ihr weh wie nach einem Marathonlauf – „als hätte ich eine Mischung aus Muskelkater und Krämpfen“. Ihr Körper kann die Temperatur nicht mehr selbst regeln, sie bekommt eiskalte Füße, einen heißen Nacken. Das Atmen tut weh, selbst leise Geräusche bereiten ihr Kopfschmerzen.

Was anfangs noch bei extremen Belastungen auftritt, ist inzwischen ein Dauerzustand. Die Schmerzen sitzen in allen Gliedern, bei jeder kleinsten Anstrengung fängt das Herz an zu rasen, die Erschöpfung bleibt auch nach Erholungspausen. „Stellen Sie sich vor, Sie haben Grippe und sich für einen Marathon angemeldet. Sie kommen völlig platt ins Ziel und da sagt einer: Jetzt müssen sie noch hoch in den fünften Stock.“ Jede Stufe ist ein unüberwindbares Hindernis. „Eine Tonne Sand liegt auf der Brust und man kann kaum atmen.“

Ihr Leben hat sich auf 12 Quadratmeter reduziert

Sie kommt nur noch aus dem Bett, um auf die Toilette zu gehen oder sich etwas zu essen zu holen. An schlimmen Tagen klappt nicht einmal das. Für diesen Fall hat sie einen Vorrat an Urinflaschen unter dem Bett stehen. Ihre Hobbys musste sie aufgeben, der jüngste Sohn wohnt inzwischen in einer betreuten WG, weil sie es nicht mehr schafft, ihn zu versorgen. Der älteste lebt in der Nachbarschaft, kommt sie regelmäßig besuchen, eines der wenigen Höhepunkte in ihrem Leben, das sich sonst auf 12 Quadratmeter reduziert hat.

„Es ist, wie lebendig begraben zu sein“, sagt sie. „Einen großen Teil des Tages verbringe ich damit, die Uhrzeit an der Decke anzugucken.“ Die Ziffern haben sich auf 14.05 Uhr vorgearbeitet.

Wenn man das Zimmer betritt, dauert es, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Aber selbst dann, sind die Gegenstände nur schemenhaft zu erkennen. Die Stofftiere auf dem Regal, die Fotos von ihren Kindern an der Wand, der Haltegriff am Bettgestell, an dem sich die 44-Jährige hochziehen kann. Drei Smileys kleben über ihrem Bett, eines mit Sonnenbrille. Auch ihr Gesicht zeichnet sich nur in Konturen ab, der Ausdruck von Emotionen reduziert sich auf ihre Stimme. In ihr schwingt Ärger mit, wenn sie erzählt, wie lange sie nach Antworten gesucht hat, wie wenig ernst genommen sie sich noch heute fühlt.

Yvonne Schulz ist von Arzt zu Arzt gelaufen – immer hieß es: psychosomatisch

„Ich war bei Hausärzten, Neurologen, beim Gastroenterologen, Endokrinologen, Kardiologen. Immer hieß es: psychosomatisch. Wenn man erstmal diesen Stempel hat, wird man ihn nicht mehr los.“

Erst 2022 erhält sie bei einem Facharzt in Hamburg die Diagnose ME/CFS. Die zwölf Seiten hat sie in einen Ordner abgeheftet, unter anderem heißt es: „Ein regelhaftes verlässliches Abrufen ihrer Leistungsfähigkeit wie es in einem beruflichen Umfeld notwendig ist, ist derzeit nicht gegeben.“

Ob es jemals wieder möglich ist? Zweifelhaft. Yvonne Schulz ist erleichtert, endlich Gewissheit zu haben, gleichzeitig weiß sie auch, dass die Diagnose bedeutet, in einer Sackgasse zu stecken. Eine Therapie gegen ME/CFS gibt es nicht. Wenn überhaupt können nur Symptome behandelt werden – etwa mit Hilfe von Schmerzmitteln, die eigentlich zur Behandlung von anderen Krankheiten zugelassen sind.

Inzwischen hat sie die Pflegegradstufe 2, das ist der niedrigste Pflegegrad, ab welchem ein Anspruch auf Pflegeleistungen der Pflegekasse besteht. Sie hat einen Rollstuhl bekommen, eine Haushaltshilfe kommt einmal wöchentlich in die Wohnung. Arztbesuche, Einkäufe, das muss sie allein stemmen ein enormer Kraftakt, den sie kaum noch leisten kann.

Der Austausch mit anderen Betroffenen gibt ihr Halt

Was macht ihr noch Mut? Yvonne Schulz zieht ein Stofftier hinter ihrem Kissen hervor, eine kleine Biene. Sie streicht mit der Hand darüber. „Das ist mein Tröstebienchen“, sagt sie. Eine andere ME/CFS-Patientin hat sie ihr geschickt. Der Austausch mit anderen, das enge Netzwerk der Betroffenen hilft, nicht zu resignieren, gibt ihr Halt. Gemeinsam treten sie dafür ein, ihre Erkrankung bekannter zu machen. Sie fordern, dass es mehr Anlaufstellen und Hilfsangebote für Betroffene gibt – und mehr in die Forschung von ME/CFS investiert wird.

Viele sprechen im Zusammenhang mit dem chronischen Fatigue-Syndrom von Antriebslosigkeit. Das trifft es für Yvonne Schulz nicht. „Ich bin nicht antriebslos“, sagt sie. „Ich möchte wieder zur Feuerwehr gehen, ich möchte meinen Sohn nach Hause holen, mich weiterbilden.“ Die Ziffern an der Decke zeigen jetzt 15.02 Uhr. Die Kraft ist aufgebraucht.

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Ärztin: Es gibt eine riesige Versorgungslücke

Dr. Isabelle Greber, niedergelassene Ärztin in Boppard, kümmert sich in ihrer Praxis ausschließlich um chronisch Erkrankte und seit einigen Jahren schon um ME/CFS-Patienten – sie ist einige der wenigen Expertinnen bundesweit auf diesem Gebiet. Als solche kennt sie den hohen Leidensdruck der Betroffenen, die häufig eine Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich haben, bevor sie bei ihr landen. „Ein Problem ist, dass es keinen Biomarker für die sichere Diagnose gibt“, sagt sie. Diese sei weder mit Bluttests noch mit bildgebender Diagnostik fassbar. Vielmehr müsse man die Diagnose anhand von klinischen Kriterien treffen, wenn andere Erkrankungen bereits ausgeschlossen wurden. Es gebe zahlreiche Überlappungen mit Erkrankungen, die Fatigue, Schmerzen, kognitive Ausfälle oder Problemen mit dem Nervensystem erzeugen.

Wer eine chronische Fatigue hat, leidet unter einem dauerhaften Erschöpfungsgefühl. ME/CFS ist eine komplexe Krankheit, die nur schwer zu diagnostizieren ist.
Wer eine chronische Fatigue hat, leidet unter einem dauerhaften Erschöpfungsgefühl. ME/CFS ist eine komplexe Krankheit, die nur schwer zu diagnostizieren ist. © dpa | Christin Klose

Die genauen Mechanismen von ME/CFS sind bisher noch ungeklärt, erläutert Greber. Es gebe jedoch vermehrt Hinweise darauf, dass der Krankheit eine Fehlregulation des Immunsystems und des autonomen Nervensystems zugrunde liegen könnte. Eine ursächliche Therapie oder zugelassenen Medikamente gibt es bislang nicht. „Allerdings gibt es Arzneimittel, die man Off-Label verwenden kann“ – die also eigentlich für die Behandlung von anderen Erkrankungen zugelassen sind, aber und auch bei ME/CFS helfen können. Vor allem durch die Corona-Pandemie und die steigende Zahl an Long-Covid-Patienten ist die Erkrankung bekannter geworden. „Wir gehen davon aus, dass sich die Zahl der Betroffenen durch die Pandemie verdoppelt haben könnte“, sagt Greber. „Doch obwohl die Krankheit so verbreitet ist, steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen.“

Es gibt große Versorgungslücken

Im vorigen Jahr habe der Bund zwar zehn Millionen Euro dafür freigegeben, „das ist aber ein Tropfen auf den heißen Stein“. Auch fehlten Anlaufstellen für Betroffene in Deutschland. Inzwischen gebe es ein Beratungs-Netzwerk, zu dem sich mehrere Ärztinnen und Ärzte zusammengeschlossen hätten. „Aber unsere Ressourcen sind begrenzt, der Beratungsaufwand ist enorm.“

Was Isabelle Greber vor allem umtreibt, ist das Leid der Betroffenen. „Es gibt so gut wie keine Versorgung für Patienten, die zuhause in dunklen Zimmern liegen.“ Viele Hausärzte wollten und könnten die Verantwortung für die komplexe und zeitaufwändige Behandlung und Betreuung nicht übernehmen. Krankenhäuser seien gar nicht auf die Bedürfnisse von ME/CFS-Betroffenen eingestellt. Und eine spezialisierte ambulante Versorgung, wie wir sie zum Beispiel von der Palliativversorgung her kennen, sei in unserem Gesundheits-System nicht vorgesehen. Da diese Patienten außerdem nicht mehr arbeiten, einer Ausbildung nachgehen oder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könnten, rutschten sie in eine Abwärtsspirale – und häufig auch ins soziale Elend. „Dass es kaum Hilfsangebote und nur zwei spezialisierte Ambulanzen für diese Patienten gibt, ist eine riesige Versorgungslücke.“

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