Berlin. Russlands Angriff auf die Ukraine hat die SPD und viele Sozialdemokraten tief erschüttert. Der Krieg hat die Partei stark verändert.

Eine Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion Anfang Februar: Olaf Scholz ergreift das Wort. Er bedankt sich bei den Abgeordneten für ihre Unterstützung in den vergangenen Monaten. Während der Kanzler draußen für seinen Kurs im Ukraine-Krieg zuletzt immer wieder heftig kritisiert wurde, ist aus der ehemals streitlustigen SPD eine Wagenburg geworden. „Ich bin seit 2005 Bundestagsabgeordnete“, sagt Parlamentsgeschäftsführerin Katja Mast. „Und ich habe noch nie eine so geschlossene SPD erlebt.“

So erzählen es auch andere Sozialdemokraten. Dabei schwingt eine gewisse Verwunderung über sich selbst mit, darüber wie die SPD die Rolle als Kanzlerpartei im vergangenen Jahr ausgefüllt hat. Denn es hätte auch ganz anders kommen können. Als Wladimir Putins Truppen am 24. Februar die Ukraine angreifen, steht die Partei vor den Scherben ihrer Russland-Politik. Während die Koalitionspartner FDP und Grüne schon im Wahlkampf einen kritischen Kurs gegenüber Putin forderten, glaubten viele in der SPD bis zuletzt an eine Partnerschaft.

SPD und Russland: „Fehler der Vergangenheit eine zentnerschwere Last“

„Die Fehler der Vergangenheit im Umgang mit Russland hingen uns nach Putins Angriff wie eine zentnerschwere Last um den Hals“, erinnert sich der SPD-Außenpolitiker Michael Roth. Die Verbindungen prominenter Sozialdemokraten nach Moskau waren jahrelang eng: Gerhard Schröder, Energie-Lobbyist und persönlicher Freund Putins. Manuela Schwesig, Kämpferin für die Nord-Stream-Pipeline. Frank-Walter Steinmeier, Verfechter einer Annäherung an Putins Russland. Der Angriff auf die Ukraine erschüttert das Fundament sozialdemokratischer Außen- und Ostpolitik. Sozialdemokratische Weltbilder zerbrechen.

Scholz spricht drei Tage nach Kriegsbeginn von einer Zeitenwende, verkündet eine Aufrüstung der Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro. Zudem liefert Deutschland erste Waffen an die Ukraine. Beides ist in der SPD umstritten. Doch die Partei folgt Scholz.

Waffenlieferungen: Scholz will eine Eskalation durch Putin verhindern

„Wir sind in Deutschland einen langen Weg gegangen von 5000 Helmen bis hin zu Kampfpanzern“, blickt Michael Roth zurück, früher Staatssekretär im Auswärtigen Amt. „Auch meine Partei musste sich nach Kriegsbeginn die Frage stellen: Verstoßen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete gegen unsere Prinzipien? Vielen in der SPD ist es nicht leichtgefallen, von dem alten Leitsatz ‚Frieden schaffen ohne Waffen‘ umzuschwenken auf ‚Frieden schaffen mit Waffen‘.“

Der SPD-Außenpolitiker Michael Roth reist früh nach Kriegsbeginn in die Ukraine.
Der SPD-Außenpolitiker Michael Roth reist früh nach Kriegsbeginn in die Ukraine. © dpa | Martin Schutt

Roth besucht keine zwei Monate nach Kriegsbeginn gemeinsam mit der FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann und dem Grünen Anton Hofreiter die Ukraine. Roth spricht sich für Waffenlieferungen aus, bläst aber nicht zur Attacke auf den Kanzler. Scholz tastet sich Schritt für Schritt voran. Er will Putin keinen Grund für eine Eskalation des Krieges geben. In der SPD findet Scholz für seinen vorsichtigen Kurs viel Unterstützung, ebenso in großen Teilen der Bevölkerung.

Der Kanzler wirkt zeitweise gereizt

Aus dem Ausland und in vielen Medien wird dem Kanzler hingegen Zögerlichkeit vorgeworfen. Strack-Zimmermann und Hofreiter schießen sich auf Scholz ein. Der steht unter Druck, wirkt zeitweise gereizt. Brachen in unruhigen Zeiten oft heftige Kämpfe innerhalb der SPD aus, wurden Vorsitzende mutwillig sabotiert und sozialdemokratische Regierungsmitglieder torpediert, hält das ungleiche Vorsitzendenduo Lars Klingbeil und Saskia Esken den Laden jetzt zusammen. „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht im Hause Scholz“, beschreibt ein Abgeordneter die Stimmung.

Juso-Chefin Jessica Rosenthal sah das Sondervermögen für die Bundeswehr kritisch.
Juso-Chefin Jessica Rosenthal sah das Sondervermögen für die Bundeswehr kritisch. © dpa | Frank Rumpenhorst

Sogar die linken Jusos unterstützen die Waffenlieferungen. „Denn nur sie machen es möglich, dass sich die Ukraine gegen den brutalen, imperialistischen Angriffskrieg Russlands verteidigen kann“, sagt Juso-Chefin Jessica Rosenthal. „In der Frage des Sondervermögens für die Bundeswehr hatten wir allerdings eine andere Einschätzung als der Kanzler.“ Ein Aufstand der Parteijugend bleibt aber aus.

Mützenich zu Waffenlieferungen: „Es gibt keine rote Linie“

Einzelne Sozialdemokraten stehen wegen ihrer bisherigen Positionen besonders im Fokus. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich ist ein überzeugter Friedenspolitiker: An manchen Tagen sieht er blass und mitgenommen aus. Der Krieg macht ihm zu schaffen. Aber er passt sein Handeln den politischen Realitäten an. „Es gibt keine roten Linien“, sagt Mützenich Mitte Januar zu Waffenlieferungen. Ein Satz, den wohl auch Mützenich selbst aus seinem Mund lange für undenkbar gehalten hat.

Mützenich ist ein ausgesprochen höflicher Mensch, als ihm aber die Kritik aus der Koalition etwa von Strack-Zimmermann an dem Kanzler zu wild wird, kritisiert er „Empörungsrituale und Schnappatmung“ in der Debatte um Waffenlieferungen. Es sei seine Aufgabe, dem Bundeskanzler Rückhalt und den notwendigen Spielraum für seine Politik zu geben, begründet der Fraktionsvorsitzende später seine verbale Grätsche zum Schutz des Spielmachers.

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich musste frühere Positionen über Bord werfen.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich musste frühere Positionen über Bord werfen. © dpa | Kay Nietfeld

Energiepreise: Die Angst vor einem Bruch in der Gesellschaft

Als die Energiepreise nach Kriegsbeginn in die Höhe schießen, kommen SPD-Abgeordnete besorgt aus ihren Wahlkreisen zurück nach Berlin. Sie haben von den Existenzängsten der Bäcker gehört, denen die Gaskosten das Geschäft ruinieren. Von den Handwerksbetrieben, die unter den Spritpreisen ächzen. Von den Familien, die ihre Rechnungen nicht bezahlen können. SPD-Ministerpräsidenten rufen deswegen nervös in Berlin an. Die SPD hat sich den Zusammenhalt der Gesellschaft auf die Fahne geschrieben, der droht nun ins Rutschen zu geraten.

Besonders um Ostdeutschland sind die Sorgen groß. Von möglichen Protesten oder sogar Volksaufständen ist die Rede. Die Koalition beschließt vor dem Winter ein drittes milliardenschweres Entlastungspakete, fängt mit massiven Ausgaben die größten Härten der Energiekrise ab.

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Ostbeauftragter: „Einen heißen Herbst oder einen Wutwinter hat es nicht gegeben“

Ein kalter Tag im Januar: Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, sitzt in seinem Büro im Kanzleramt. „Einen heißen Herbst oder einen Wutwinter hat es nicht gegeben“, bilanziert der SPD-Politiker aus Thüringen zufrieden. „Die Entlastungen haben dafür gesorgt, dass die Bürger trotz all der Unsicherheiten keine Angst haben mussten, dass das Gas ausgeht oder sie von den Energiepreisen erdrückt werden.“ Viele Sozialdemokraten sehen darin einen Erfolg der Kanzlerpartei.

Carsten Schneider (SPD), Ostbeauftragter der Bundesregierung, blickt zufrieden auf die beschlossenen Entlastungspakete.
Carsten Schneider (SPD), Ostbeauftragter der Bundesregierung, blickt zufrieden auf die beschlossenen Entlastungspakete. © dpa | Bodo Schackow

Ist die SPD zu Beginn des zweiten Kriegsjahres also stark wie lange nicht? Einerseits gibt es in der Partei großen Stolz auf die eigene Geschlossenheit, auf den abwägenden Kanzler. Doch der Burgfrieden könnte bald Risse bekommen. Es geht darum, welche Projekte nun angepackt werden – und mit welchem Geld. Nach einem Jahr Disziplin vertreten die verschiedenen Flügel in der Partei ihre Forderungen wieder lauter.

Pistorius will mehr Geld für die Bundeswehr – Esken winkt ab

SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius fordert weitere Milliarden für die Bundeswehr über das Sondervermögen hinaus. SPD-Chefin Esken winkte öffentlich bereits ab und verwies auf die Finanzierung sozialdemokratischer Herzensprojekte wie die Kindergrundsicherung. Juso-Chefin Rosenthal wünscht sich ebenfalls einen breiteren Fokus. Sie fordert Investitionen auch für den Schutz gegen Cyberangriffe, in Entwicklungszusammenarbeit, den Bevölkerungsschutz oder das Gesundheitswesen: „Zeitenwende heißt für uns: Auch, aber nicht nur aufs Militär schauen.“