Dresden. Während andere Schüler über knifflige Mathe-Aufgaben stöhnen, können Rhea Shah und Granth Thakkar nicht genug davon bekommen.

Achtstellige Zahlen miteinander multiplizieren, Wochentage des vergangenen Jahrhunderts bestimmen oder Quadratwurzeln aus mehrstelligen Zahlen ziehen - alles kein Problem. «Zahlen sind unsere Leidenschaft. Wir lieben es, zu rechnen», sagen die beiden 14 und 13 Jahre alten Inder. Dafür brauchen sie weder Taschenrechner noch Papier oder Stift. Gerechnet wird im Kopf.

Die Leidenschaft zahlt sich aus: Bei der 6. Weltmeisterschaft im Kopfrechnen holte Granth Thakkar als einer der jüngsten Teilnehmer am Wochenende in Dresden den Weltmeistertitel in der Gesamtwertung. Der 13-Jährige löste die meisten Aufgaben fehlerfrei und in kürzester Zeit. «Ich bin glücklich, glücklich, glücklich», sagte Granth nach der Entscheidung der Jury. Während der Wettbewerbe sei er ein wenig unsicher gewesen, ob er es tatsächlich schaffen würde. Rhea Shah wurde Weltmeisterin in der Einzelkategorie Wurzelziehen

Zweiter in der Gesamtwertung wurde Marc Jornet Sanz aus Spanien, gefolgt von dem Japaner Chie Ishikawa. Insgesamt traten 40 Mathe-Asse aus 18 Ländern gegeneinander an. Der jüngste Teilnehmer war ein zehn Jahre alter Inder, der älteste ein 80-jähriger Franzose. Die Weltmeisterschaft im Kopfrechnen findet alle zwei Jahre statt.

Obwohl Granth Thakkar bereits mehrere Weltrekorde holte, freute er sich über seinen ersten Titel als weltbester Kopfrechner. Schon am Wochenende zuvor hatte er eine Goldmedaille bei der Junior-Kopfrechenweltmeisterschaft in Bielefeld geholt. Organisator und Jurymitglied Ralf Laue sprach von einem «echten Überflieger».

Mit elf Jahren nahm Granth zum ersten Mal an einer Olympiade teil, mittlerweile hat er sich an den Erfolg gewöhnt. «Ich bin natürlich stolz. Aber mit der Zeit wird das irgendwie normal.» Der jüngste Weltmeister der Geschichte ist er dennoch nicht. Bei der Kopfrechnen-WM 2010 gewann die damals elfjährige Priyanshi Somani - ebenfalls aus Indien.

«Dort ist Kopfrechnen weiter verbreitet als hier», erläuterte Ralf Laue. Es gebe zahlreiche Wettbewerbe im Kopfrechnen, die Disziplin sei schon bei den Jüngsten populär.

Dabei steckt nicht nur Talent, sondern vor allem jede Menge Übung hinter den Rechenkünsten, verrät die Trainerin des indischen Teams, Gwendolen Noronha. An normalen Tagen paukt sie mit ihren Schützlingen vier bis fünf Stunden. Vor Wettkämpfen wie der Weltmeisterschaft können es bis zu zwölf Stunden sein. «Man braucht nicht als Genie geboren zu werden», ist die 26-Jährige überzeugt. Genug vom Rechnen haben die Mathe-Fans nach diesem straffen Programm nicht. «Urlaub brauche ich nach der WM nicht, im Gegenteil», sagte Rhea strahlend.

Zwei Tage brüteten die Rechenkünstler in einem Prüfungssaal der TU Dresden über den Aufgaben. Taschenrechner sowie Papier und Stift waren tabu - nur das konkrete Endergebnis durfte notiert werden. Unter anderem mussten achtstellige Zahlen miteinander multipliziert, zehnstellige Zahlen addiert oder kalendarische Daten dem jeweiligen Wochentag zugeordnet werden. Was wird der 22. Juli 2051 für ein Wochentag sein?, hieß es da. Oder: was ist die Wurzel aus 342624? Zudem mussten die Kandidaten knifflige Überraschungsaufgaben lösen.

Jeder Kopfrechner habe seine eigene Methode, erklärte Laue. Viele trainierten zunächst mit einem Abakus - einer Rechenmaschine mit kleinen Kugeln. Nach einiger Zeit brauche man die Maschine nicht mehr, es reiche, sich die Aufgabe bildlich vorzustellen: «Wie ein Klavierspieler, der irgendwann nicht mehr auf die Noten gucken muss.» Eine anderer Trick sei es, sich für eine Kombination von zwei bis drei Zahlen ein Bild vorzustellen und daraus Geschichten zu entwickeln.

Bei öffentlichen Rechenshows gaben die «Superhirne» Kostproben ihres Könnens und verrieten ihre Methoden, sich lange Kolonnen von Zahlen und Begriffen einzuprägen. Ein achtjähriger Schüler aus Indien, der allerdings nicht zur offiziellen WM antrat, ordnete einen Rubik-Zauberwürfel mit verbundenen Augen. Mit dabei war auch der Niederländer Willem Bouman. Der 75-Jährige ist in der Szene als «König der Primzahlen» bekannt. Wenn er eine Handynummer sieht, zerlegt er sie gern in ihre Primzahlen - in Sekundenschnelle.

Granth Thakkar dagegen mag am liebsten Quadratwurzeln. Wenn der 13-Jährige nicht gerade rechnet, bleibt manchmal auch Zeit für das, was er normale Sachen nennt - Schach spielen zum Beispiel. Sein Hobby will der Zahlenakrobat später nicht zum Beruf machen. Stattdessen träumt er davon, Astronaut zu werden. «Ich stelle es mir toll vor, in den Weltraum zu fliegen.» (dpa)

Matthias Hiekel