Wolfsburg. Zwischen Ruhestand und Reue: VW-Mitarbeiter bereut, das Angebot angenommen zu haben. Professorin schlägt Alternativen vor.

3 + 3 oder 2 + 2? Was nach einfachen Rechenaufgaben einer 1. Klasse einer Grundschule klingt, ist im VW-Kontext die Entscheidung über die weitere Lebensgestaltung. Es geht um die Altersteilzeitregelung bei Volkswagen. Die Bedingungen für die Altersteilzeit sind im Tarifvertrag festgeschrieben. Grundsätzlich gilt: Wer mindestens 55 Jahre alt und Mitglied der IG Metall ist, kann die Regelung nutzen.

Volkswagen bietet derzeit dem Jahrgang 1967 die Altersteilzeitregelung an – künftig soll auch der Jahrgang 1968 hierfür geöffnet werden. Abhängig von der Tarifstufe der Beschäftigten arbeiten sie dann zwei beziehungsweise drei Jahre noch aktiv Vollzeit weiter. Volkswagen stockt das Nettogehalt auf. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der untersten Entgeltstufen 1 bis 5 erhalten dank des Zuschusses 95 Prozent des letzten Nettoentgelts, dann geht es gestaffelt weiter bis zur höchsten Tarif-Entgeltstufe Tarif Plus III. Wer dort eingruppiert ist, bekommt noch 78 Prozent seines letzten Nettoentgelts.

Nach dem aktiven Teil gehen die VW-Beschäftigten in den passiven, zwei- oder dreijährigen Teil über. Von einem Tag auf den anderen erscheinen sie dann nicht mehr im Werk, erhalten in dieser Zeit aber weiterhin anteilig ihr Gehalt. Auch Geschäftswagen können in der passiven Zeit weitergefahren werden. Vor dem 63. Lebensjahr müssen sich VW-Angestellte entschieden haben, ob sie das Angebot annehmen wollen.

Reue eines VW-Mitarbeiters

Für Klaus P.* kommt die Altersteilzeitregelung nicht in Frage. Leicht gemacht hat er sich diese Entscheidung nicht – genau durchgerechnet hat er alles und mit Kollegen gesprochen. „Ich habe einfach Angst davor, schneller zu altern, wenn ich mich vorzeitig zur Ruhe setze“, sagt er. Das sähe man bei manchen Kollegen nach Renteneintritt deutlich.

Professorin Simone Kauffeld leitet den Lehrstuhl für Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie an der TU Braunschweig und kennt dieses Phänomen auch: „In kürzester Zeit altern die Menschen, auch äußerlich sichtbar“, sagt sie. Manager mit viel Verantwortung und Mitarbeitende, die gerne zur Arbeit gegangen sind, die einen Sinn in ihrer Tätigkeit gesehen haben, die würde es oft besonders hart treffen, sagt Kauffeld.

Auf einmal stand ich ganz allein da. Das kannte ich in meinen 30 Jahren bei Volkswagen so noch nicht.
Olaf S.*

Olaf S.* ist solch ein VW-Mitarbeiter gewesen. Ende 2019 stimmte er der 2 + 2-Regelung zu. Da war er 59 Jahre alt und in der Forschung und Entwicklung tätig. „Ich befand mich gerade in einer stressigen Lebensphase und dachte damals, das Angebot kommt genau richtig. Ich tendiere leider auch zu Spontanentscheidungen“, sagt er.

Doch schon nach vier Tagen habe er seine Entscheidung bereut. Doch es war nichts mehr zu machen – eine Frist war abgelaufen und Volkswagen, der Betriebsrat und die Gewerkschaft ließen nicht mehr mit sich reden. „Auf einmal stand ich ganz allein da. Das kannte ich in meinen 30 Jahren bei Volkswagen so noch nicht“, berichtet er. Er habe einen Fehler gemacht, sagt Olaf S. heute.

Über Altersteilzeit will der Autobauer zahlreiche Arbeitsplätze abbauen.
Über Altersteilzeit will der Autobauer zahlreiche Arbeitsplätze abbauen. © dpa | Julian Stratenschulte

Am 17. Januar 2022 war sein letzter Arbeitstag bei VW. Danach verfiel er in eine Depression. „Ich rate jedem von dieser Regelung ab. Es ist mental furchtbar. Und finanziell nicht reizvoll. Nur, wenn man mit seinem Job abgrundtief unglücklich ist, dann hat das Angebot vielleicht Vorteile“, sagt er inzwischen. Er sehe auch keinen Sinn für Arbeitnehmer in der Regelung – man könne doch in den letzten zwei bis drei Jahren einfach seine Arbeitszeit reduzieren.

Alternative Arbeitszeitmodelle erwägen

Auch Simone Kauffeld schlägt vor, andere Arbeitszeitmodelle als Vorbereitung auf den Ruhestand zu wählen – die Arbeitsstunden pro Tag zu reduzieren oder nur noch drei, statt fünf Tage zu arbeiten. „Seine Arbeitszeit auszuschleichen, finde ich deutlich besser als einen harten Cut“, sagt Kauffeld. Auch ein Job-Sharing-Modell sei denkbar. „Unternehmen sollten auch Geschäftsfelder finden, in die ältere Mitarbeitende hineinentwickelt werden können“, sagt sie. Gute, erfahrene Mitarbeiter würden doch derzeit überall gebraucht.

Seine Arbeitszeit auszuschleichen, finde ich deutlich besser als einen harten Cut.
Simone Kauffeld

„Das Problem bei der Regelung von VW ist, dass die Mitarbeitenden von einem auf den anderen Tag nicht mehr da sind“, sagt sie. Übergänge in einen neuen Lebensabschnitt sollten aber vorbereitet und aktiv gestaltet werden. Dafür brauche man mindestens fünf Jahre Vorlaufzeit, sagt Kauffeld. Wenn der Arbeitgeber keine Ruhestandsberatung anbiete, müsse man sich selbst drum kümmern. Für Männer sei der Übergang in den Ruhestand tendenziell herausfordernder. Frauen hätten eine größere Rollenvielfalt und andere Bereiche, in denen sie sich verwirklicht haben und in denen sie nun nahtlos weitermachen könnten.

„Manche Männer fragen sich dann schon – ‚ist das jetzt alles gewesen, besteht mein Lebenssinn nur noch aus den Gassirunden mit dem Hund ‘?“, sagt Kauffeld. Eine Bedeutungslosigkeit könne sich breit machen. Der soziale Status sei auf einmal weg, genauso wie das berufliche Ansehen. Neue Aufgaben können dies kompensieren, Anknüpfungspunkte seien die ehemaligen Tätigkeiten. Was noch hilft: eine Tagesstruktur, soziale Kontakte zu reaktivieren, aktiv zu bleiben, sich zu bewegen und kognitiv fordernde Aufgaben auszuführen.

Ruhestandsberatung und Coaches können helfen

In der Region gibt es Ruhestandscoachings und auch spezialisierte Therapeuten mit Fokus auf Altersdepression. Man solle keine Scham haben, sich an entsprechende Organisationen zu wenden. Informationen hierzu finden Sie in unserer Infobox.

Einen einzigen ehemaligen Kollegen kennt Olaf S., der dankbar für das VW-Angebot sei. „Der hatte eine Führungsposition inne und ist nun sehr froh über seine Wahl“, erzählt er.

Was er besonders vermisse, sei das Miteinander der Kollegen, jeden Tag Gleichgesinnte in den Projekten zu treffen, sein internationales Netzwerk und: „auch das Geld“. „Ich habe gerne bei VW gearbeitet“, sagt er wehmütig. Nun, da das letzte Jahr seiner passiven Altersteilzeit auslaufe, wolle er sich selbstständig machen. „Ich möchte Menschen beruflich coachen“, erzählt er. Kunden hätte er schon.

Frühere Rente trotz Fachkräftemangels?

Klaus P. findet das VW-Angebot nach wie vor verlockend, doch gehe damit auch ein großer Geldverlust einher – man bekomme je nach gewähltem Modell vier oder sechs Jahre weniger Gehalt, gehe meist früher in den Ruhestand – was wiederum weniger Rente bedeute. Für ihn komme nur eine Abfindung in Frage. „Das soll aber jeder für sich entscheiden“, sagt der VW-Mitarbeiter.

Für ihn sei das Angebot von VW ein schlechtes Zeichen in Zeiten des Fachkräftemangels: „Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht finde ich dieses Angebot nicht gut. Man schafft hier einen Anreiz für noch vitale, tatkräftige Leute, nichts mehr zu tun, obwohl sie noch leistungsfähig wären“, sagt der 60-Jährige. Er fragt sich stattdessen, wie die Gesellschaft fitten und arbeitswilligen über 60-Jährigen Anreize schaffen könnte, noch länger zu arbeiten. Denn: „Es gibt auch bei Volkswagen Mitarbeiter, die Spaß in ihrem Job haben“, sagt er und lacht.

Olaf S. ist dagegen davon überzeugt, dass VW kein Interesse daran habe, über 60-Jährige zu halten: „Das Unternehmen ist an jungen Leuten interessiert“.

Generationenkonflikte bei VW-Mitarbeitern

Simone Kauffeld sieht in der Altersteilzeitregelung von Volkswagen auch ein schlechtes Zeichen in Zeiten des Fachkräftemangels: „Wie kann man 55-Jährige schon in den Ruhestand schicken?“, fragt sie kritisch. Das könnten wir uns als Gesellschaft langfristig nicht leisten. Die folgenden Generationen würden sich auch fragen, warum sie bis 70 arbeiten sollten, während ihre Kollegen mit 55 in Rente geschickt würden und sie diese mitfinanzieren müssten. „Die jüngeren Generationen sind nicht fauler“, sagt Kauffeld, sie müssten sogar noch viel mehr und länger arbeiten als die ältere Generation. Sie bekämen später Rente und sollen heute voll arbeiten, daneben eine Familie gründen, Kinder großziehen und auch noch Angehörige pflegen.

* Auf Wunsch der Interviewten wurden ihre Namen anonymisiert.

Tipps zum Übergang in den Ruhestand

Simone Kauffeld empfiehlt, mindestens fünf Jahre vor Eintritt in den Ruhestand, Ideen für diesen Lebensabschnitt zu entwickeln. Anknüpfungspunkte können die ehemaligen Aufgaben geben: Nachhilfe geben, schulischer Begleiter werden, Nachmittagsbetreuung an Grundschulen anbieten, handwerklichen Unterricht geben, AGs leiten, Reparaturcafés unterstützen, Einzelcoachings anbieten, Unternehmen und Start-ups beraten, ehrenamtlich tätig werden, sich noch einmal auf eine ganz andere Tätigkeit bewerben.

Soziale Kontakte reaktivieren und neue finden bei: Ehemaligentreffen, Sportvereinen, in der Kirche, bei Aufnahme eines Minijobs oder Ehrenamts.

Hilfreiche Links:
https://www.freiwilligenserver.de/engagement/freiwilligenagenturen/datenbank-freiwilligenagenturen

https://www.deutsche-rentenversicherung.de/BraunschweigHannover/DE/Beratung-und-Kontakt/AuB-Stellen/AundB-Stellen_node.html

https://www.senioren-in-niedersachsen.de/aktiver-ruhestand

https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/wo-finde-ich-hilfe

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