Braunschweig. Ein Erinnerungsort für tote Kinder wurde geplündert. Es werden Zeugen gesucht. Die Angehörigen haben einen Wunsch.

Warum? Wer macht so etwas? Diese Fragen stellt sich Sylvie Güdesen seit Tagen. Im Mai 2023 verlor sie ihren Sohn Tomte. Da war er drei. Hirntumor. Lange kämpfte er gegen den Krebs, dann verlor er den Kampf. Die 37-Jährige schloss sich zur Trauerbewältigung dem Verein „Weggefährten“ an. Der kümmert sich in Braunschweig seit Jahrzehnten um die Angehörigen von verstorbenen oder schwer erkrankten Kindern. Im November pflanzte Güdesen dann einen Erinnerungsbaum im Westpark, so wie mehrere andere Familien an dem Tag auch.

Jetzt für alle Familien der Schock. Unbekannte entwendeten offenbar zwischen Ende Januar und Mitte Februar, auf der Fläche, die die Stadt trauernden Angehörigen seit Jahren zur Verfügung stellt, unzählige Erinnerungsstücke. Die Polizei ermittelt seitdem, sucht nach Zeugen, die etwas beobachtet haben. Bis Mittwoch gab es noch keine konkrete Spur, bestätigt ein Polizeisprecher unserer Zeitung.

Betroffene Mutter: Wir haben schon genug gelitten

Bei der „Plünderung“ wurden Bilder zerschnitten, Ballons gelöst, Gedenksteine entfernt, Wimpel abgehängt, sogar eine Girlande aus dem Stoff einer Krabbeldecke wurde fein säuberlich von den Hölzern abgetrennt, die die gepflanzten Bäume in einem Dreieck einschließen. „Das war kein Vandalismus, da hat sich jemand große Mühe gemacht, alles, was an die Kinder erinnert, zu entsorgen“, sagt Güdesen. „Das ist, als würde man noch einmal ein Messer in den Rücken gerammt bekommen“, sagt sie. Man habe schließlich schon mehr als genug gelitten.

So sah noch im November der geschmückte Baum der Familie Gladow für den verstorbenen Sohn Corvin aus. Die Erinnerungsstücke wurden alle abmontiert.
So sah noch im November der geschmückte Baum der Familie Gladow für den verstorbenen Sohn Corvin aus. Die Erinnerungsstücke wurden alle abmontiert. © Sascha Gladow | Sascha Gladow

Auch Annika und Sascha Gladow betrauern den Tod ihres Kindes. Corvin war nicht einmal zwei. „Er starb an einem sehr schweren Infekt“, erzählt die Mutter, die vor drei Wochen Corvins Bruder Aiden zur Welt brachte. Der Säugling schlummert jetzt friedlich an der Brust der Frau. Die Familie wohnt in der Weststadt, etwa eine halbe Stunde von den Erinnerungsbäumen entfernt. „Das ist unsere Runde, die wir immer gehen. Dann besuchen wir Corvin. Wir waren noch vor Weihnachten hier. Da war alles noch geschmückt“, erzählt Annika. Ihr Mann Sascha sagt: „Der oder die Täter haben alle Erinnerungsstücke entwendet, an die sie ohne Leiter ran kamen.“ Vereinzelt sind in den Ästen der Gedenkbäume noch vom Regen verwitterte Stofffetzen und drapierte Papierschleifen zu entdecken.

Braunschweiger Verein: Trauerbewältigung braucht viele Erinnerungsorte

Die Motivation, mit einem Baum an sein totes Kind zu erinnern, sei bei vielen Angehörigen eine ähnliche, sagt Marie Ehrenreich-Lampe, die im Vorstand des Vereins „Weggefährten“ sitzt. Es brauche manchmal zusätzliche Orte, an denen auch anders getrauert werden könne als auf Friedhöfen oder in einem Friedwald. „Hier treffen sich Menschen, die Schicksale teilen, hier entstehen auch Freundschaften“, so Ehrenreich-Lampe.

Annika Gladow bestätigt das. Bestattet wurde Corvin im Friedwald Cremlinger Horn. „Dort ist es aber nicht gestattet, an den Bäumen persönliche Gegenstände abzulegen. Das ist hier im Westpark anders, das war uns wichtig.“ Sie verweist auf ein Lieblingsauto ihres Sohnes, das sie hier platziert hatte.

Güdesen hat auch nach dem Zeugenaufruf der Polizei schlechte Erfahrungen gemacht. „Ich habe am Freitag einen Zettel an Tomtes Baum gehängt. Dort stand, dass es erlaubt ist, hier persönliche Gegenstände anzubringen. Auch dieser Hinweis wurde wieder entwendet.“ Und wieder stellt sie sich die Frage: Wer macht so etwas?

Diesen Hinweis hinterließ Sylvie Güdesen erst am vergangenen Freitag an dem Baum ihres verstorbenen Kindes. Auch dieser Hinweis wurde kurze Zeit später entfernt. 
Diesen Hinweis hinterließ Sylvie Güdesen erst am vergangenen Freitag an dem Baum ihres verstorbenen Kindes. Auch dieser Hinweis wurde kurze Zeit später entfernt.  © Sylvie Güdesen | Sylvie Güdesen

Die Angehörigen können über Gründe und Motive nur spekulieren. Güdesen schildert ihre Gedanken dazu: „Vielleicht ist es jemand, der Ähnliches erlebt hat wie wir, der aber das öffentliche Erinnern an verstorbene Kinder nicht erträgt.“ Es könne aber einfach auch aus Rücksichtslosigkeit geschehen sein. „Moral und Pietät sind heutzutage nicht mehr bei jedem Mitbürger vorauszusetzen“, sagt sie. Güdesen war es auch, die Strafanzeige stellte. Es sei nicht ausgeschlossen, dass weitere Eltern ihrem Beispiel folgen werden und sich an die Polizei wenden.

Dass jemand „aus Versehen“ oder aus Profitgier die persönlichen Erinnerungsstücke entwendet hat, daran glaubt niemand, auch die Stadt Braunschweig nicht. Ein Pressesprecher betonte, einen gesonderten Schutz der Bäume könne man jedoch nicht gewähren. Die Polizei verstärkt derzeit aber ihre Streifenfahrten in der Gegend.

Angehörige: Hinweistafeln auf Erinnerungsbäume würden helfen

Genau wie Sylvie Güdesen hoffen auch die Gladows, dass die Polizei einen Fahndungserfolg erzielt. Viel Hoffnung haben sie nicht. Wichtiger sei, die Menschen für das Thema und den Ort zu sensibilisieren. Von der Stadt erhoffen sich die Angehörigen Unterstützung. Sie fordern Hinweisschilder entlang des Weges, der unweit des Bilderrahmens im Westpark beginnt. „Am besten ein Schild am Anfang und eines am Ende“, sagt Güdesen.

„Weggefährten“-Vorstand Ehrenreich-Lampe erklärt, man könne sich als Verein vorstellen, die Hinweistafeln zu entwerfen und auch mitzufinanzieren. Man erhoffe sich aber von der Stadt eine Beteiligung an den Kosten, mindestens aber eine Genehmigung dafür, die Schilder aufzustellen. Die Stadt teilte mit, der Fachbereich Stadtgrün plane das derzeit nicht. Schließlich handele es sich um einen „Ort des stillen Gedenkens“, an dem die Betroffenen keine zusätzliche Aufmerksamkeit benötigten.

Sascha Gladow holt ein grünes Stoffherz mit Schildkröten-Motiv aus dem Rucksack und hängt es an Corvins Erinnerungsbaum. Der Junge habe die Tiere geliebt, sagt die Mutter. Ob es hängen bleibt? „Ich kann es nur hoffen“, sagt der Vater.

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