Braunschweig. Lange dachte man, die Krankheit ADHS betrifft meist Kinder. Doch Lena Hartung aus Wolfenbüttel verrät, wie das „Chaos im Kopf“ ihr Leben beeinflusst.

Was wäre wenn? Diese Frage beschäftigt Lena Hartung immer wieder. Was, wenn sie früher gewusst hätte, dass ihr Chaos im Kopf einen Grund hat? Dass ihre Ängste, die Unruhe, die Wut nicht auf einmal auftauchen wie aus dem Nichts, wie Geister, die durch ihr Leben spuken? Sie sind ein Teil von ihr und dieser Teil ist beherrschbar – wenn man ihn nur kennt.

Lena Hartung sitzt auf einer Bank vor dem Haus der „Tagesförderung Sonnenschein“ im inklusiven Dorf Neuerkerode und fädelt Perlen auf eine Schnur. Erst eine blaue, dann eine grüne, dann wieder eine blaue. Ein Geduldsspiel. Sie trägt eine rote Cord-Jacke und eine Brille mit feinem Goldrand, die blonden Haare sind zu einem Zopf gebunden. Neben ihr wippt Mary mit dem Oberkörper vor und zurück. „Armband“, sagt sie und deutet auf die Kette. „Ja“, sagt Lena Hartung mit einem Lächeln – „für Dich“.

Lena Hartung macht eine Ausbildung bei der Evangelsichen Stiftung Neuerkerode. Die Arbeit mit Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen macht ihr Spaß.
Lena Hartung macht eine Ausbildung bei der Evangelsichen Stiftung Neuerkerode. Die Arbeit mit Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen macht ihr Spaß. © FMN | Florian Kleinschmidt

Nach der Diagnose ADHS arbeitet Lena Hartung aus Wolfenbüttel ihr Leben neu auf

Seit einem Jahr arbeitet die 26-Jährige als Auszubildende in der Tagesförderung der Evangelischen Stiftung Neuerkerode. Sie kümmert sich um Menschen, die geistig und körperlich beeinträchtigt sind – eine Arbeit, die ihr Kraft gibt – und eine Ruhe, die sie bis dahin nicht gekannt hat. Die Wolfenbüttelerin ist 25 Jahre alt, als sie die Diagnose ADHS bekommt, eine Störung, die man lange nur im Zusammenhang mit Kindern oder Jugendlichen gesehen hat.

Sie weiß: Hätte man die Zeichen bei ihr früher richtig gedeutet, wäre vieles anders gelaufen. Jetzt ist sie dabei, ihr Leben neu zu sortieren. Ihre Geschichte aufzuarbeiten, die erst im Rückblick einen Sinn ergibt. Dazu gehört, genau zu erkennen, was die Störung in ihr auslöst und Wege zu finden, vermeintliche Schwächen in Stärken umzuwandeln. „Es gibt nicht ein bisschen ADHS. Entweder man hat es oder man hat es nicht. Aber es gibt verschiedene Ausprägungen“, sagt sie.

Leben mit ADHS – das ist eine Achterbahnfahrt mit Höhen und Tiefen

Leben mit ADHS – das ist eine Achterbahnfahrt mit Höhen und Tiefen, Loopings, rasanten Kurven und permanenter Höchstgeschwindigkeit. Auch bei Lena Hartung überschlagen sich ständig die Gedanken. Wie lässt sich das in Worte fassen? „Es ist, als ob ich in einem Fahrstuhl stehe, der nie anhält“, sagt sie. Er fährt in den sechsten Stock, dann weiter hoch bis zum 15. und wieder zurück bis in den Keller. Gleichzeitig dudeln Lieder, es ist nie ruhig – als plärre irgendwo ein Radio in einer Non-Stop-Schleife.

ADHS-Patientin: Schon als Kind merkt Lena Hartung, dass sie sich anders verhält

Das Gefühl, von Reizen überflutet zu werden, zieht sich durch ihr Leben wie ein roter Faden. Schon als Kind erkennt Lena Hartung, dass sich ihre Zwillingsschwester anders verhält, anders mit Freundinnen umgeht, anders lernt. Bei den Arbeiten bringt diese eine 2 nach Hause, während Lena eine 5 bekommen hat. Sie kann sich nicht konzentrieren, macht viele Flüchtigkeitsfehler. Das nagt an ihrem Selbstwertgefühl. Warum ist sie so schlecht? Warum fliegt ihrer Schwester alles zu, während sie ständig zur Nachhilfe muss?

Als Kind war Lena Hartung ständig in Bewegung. Damals konnte niemand richtig deuten, woher die Unruhe in ihr kam.
Als Kind war Lena Hartung ständig in Bewegung. Damals konnte niemand richtig deuten, woher die Unruhe in ihr kam. © privat | Privat

Statt sich hinzusetzen und zu lesen, ist sie ständig in Bewegung. Sie ist nervös, zappelt mit den Armen, mit den Beinen. „Ich bin aufs Bett gesprungen und wieder herunter, überall raufgeklettert, konnte nicht stillsitzen.“ Zu einem Geburtstag bekommt sie ein Trampolin geschenkt. Auf ihm hüpft sie wie ein Flummi herum, manchmal vier bis fünf Stunden lang. Und trotzdem scheint ihr die Puste nie auszugehen.

Wolfenbütteler ADHS-Patientin Lena Hartung bekommt schon früh immer wieder Panikattacken

Hinzu kommen Ängste, die sie wie ein Schatten verfolgen. Sie versucht sie abzuschütteln, doch sie wird sie nicht los. Als Lena zehn oder elf Jahre alt ist, ist sie überzeugt, dass sie Krebs hat. Die Panikattacken lösen Herzrasen in ihr aus, Schwindelgefühle, doch körperlich fehlt ihr nichts. Die Ärzte verordnen Therapien, die ihr nicht helfen. Weil sie sehr impulsiv ist, mitunter aggressiv, zerbrechen Freundschaften, Beziehungen, was ihre Ängste noch verstärkt. Sie handelt oft blitzschnell aus dem Bauch heraus. Sie kann gut gelaunt sein und im nächsten Moment ausrasten, wenn sie unter Stress kommt. In die Luft gehen wie ein HB-Männchen. Und dann tut es ihr wieder leid.

Lena Hartung vor dem Haus der Tagesförderung Sonnenschein im Dorf Neuerkerode. Hier absolviert sie einen Teil ihrer Ausbildung.
Lena Hartung vor dem Haus der Tagesförderung Sonnenschein im Dorf Neuerkerode. Hier absolviert sie einen Teil ihrer Ausbildung. © FMN | Florian Kleinschmidt

„Ich war immer auf der Suche nach etwas Neuem“, sagt Lena Hartung. Und findet nie einen Punkt, der sie innehalten lässt. Nach der Realschule weiß sie nicht, was sie machen soll. Sie beginnt eine Ausbildung im Einzelhandel bei Peek und Cloppenburg, arbeitet dort anschließend als Aushilfskraft. Sie reist in die USA zu einem Sprachkurs. Sie macht den Führerschein, kauft sich ein Auto, verkauft es wieder und holt sich ein neues, ein besseres, schnelleres. Bei der Deutschen Bahn arbeitet sie am Schalter und hat das Gefühl, an den Stuhl gefesselt zu sein. Im nächsten Job, diesmal bei der Sparkasse muss sie Kreditanfragen in den Rechner tippen, sie hält es auch nicht lange aus.

Von ADHS zunächst keine Rede: Ein Neurologe vermutet Borderline – doch das trifft nicht zu

„Ich habe viel geweint, je älter ich wurde, desto besser konnte ich mich mitteilen“, sagt sie rückblickend. Doch es fehlt ihr die richtige Erklärung für ihr Verhalten. Dann kommt Corona, sie bewirbt sich als Hilfskraft bei der Evangelischen Stiftung Neuerkerode – und hat endlich das Gefühl, einen Sinn in ihrer Arbeit zu erkennen. 2020 geht sie zu einem Neurologen. Borderline, vermutet dieser. Fast ein Jahr wartet sie auf einen Therapieplatz. Als sie diesen endlich bekommt, erkennt eine Therapeutin schnell, dass etwas Anderes hinter ihrem Verhalten stecken muss und rät zu weiteren Untersuchungen.

Im Oktober 2022 hat sie endlich eine Erklärung für das Chaos im Kopf. Sie erinnert sich noch gut an den Moment, als die Ärztin in der neurologischen Praxis ihr die Diagnose übermittelt: Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung. ADHS. Vier Buchstaben für etwas, die ihr ganzes Leben geprägt hat. In der Arztpraxis reißt sie sich noch zusammen, sie will stark sein. Doch zuhause fließen die Tränen. Endlich hat sie einen Namen für ihr „Anderssein“, endlich machen viele Sachen für sie einen Sinn. Aber wie geht sie mit dieser Diagnose um?

Im Umgang mit den Bürgern von Neuerkerode ist sehr geduldig. Dass sie von einer inneren Unruhe getrieben wird, merkt man ihr nicht an.
Im Umgang mit den Bürgern von Neuerkerode ist sehr geduldig. Dass sie von einer inneren Unruhe getrieben wird, merkt man ihr nicht an. © FMN | Florian Kleinschmidt

Arbeiten mit ADHS: Ein Jahr Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin hat Lena Hartung noch vor sich

Wer Lena Hartung heute im Umgang mit den Bürgern von Neuerkerode erlebt, merkt ihr eine innere Rastlosigkeit nicht an. Seelenruhig steckt sie die letzte Perle auf die Schnur und überreicht Mary das Armband. Doch diese ist schon aufgesprungen, um eine Puppe aus dem Gruppenraum zu holen. Geduldig führt Lena Hartung die junge Frau zurück zu ihrem Platz. Geduldig geht sie auch auf die anderen Bürgern des inklusiven Dorfes ein, wenn diese ihre Bedürfnisse selbst nicht in Worte fassen können und sprunghaft reagieren.

Die Arbeit mit Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen falle ihr vielleicht deshalb so leicht, weil sie durch ihre eigene Lebensgeschichte mehr Verständnis, mehr Empathie für das „Anderssein“ mitbringe, vermutet Lena Hartung. Und sieht das erste Mal, dass längst nicht alle typischen Eigenschaften von ADHS-Betroffenen negativ sind. Wenn sie von etwas begeistert ist, kann sie sich stundenlang darauf fokussieren – mit voller Aufmerksamkeit. Ein Jahr Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin hat sie noch vor sich, inzwischen kann sie sich gut vorstellen, in diesem Beruf zu bleiben.

ADHS-Symptome unterdrücken: Medikamente helfen dabei

„Inzwischen ist ADHS ein Teil von mir“, sagt sie. Das Gedankenkarussel – es dreht sich noch immer sehr schnell. Aber es gelingt ihr immer besser, auch mal Abstand zu gewinnen. Sie nimmt 30 Milligramm Ritalin am Tag, das Standardmedikament zur Behandlung von ADHS. Es unterdrückt die Symptome, sie ist seitdem ruhiger geworden. In ihr nagt aber immer noch die Frage, was hätte anders laufen können, wäre sie früher richtig behandelt worden.

„Es ist ein Trauerprozess“, sagt sie. Sie trauert um verpasste Chancen, zerbrochene Beziehungen. „Ich habe das Gefühl, als hätte ich 25 Jahre am falschen Tisch gesessen.“ Irgendwann, so hofft sie, wird sie ihren richtigen Platz finden.