Osterode. Redakteur Kevin Kulke findet: Im Austausch mit Verschwörungsideologen wird offenbar: Wer verunsichert ist, ruft nach dem Vater, dem König, dem Führer.

In Bad Lauterberg gibt es jetzt bekanntermaßen Reichsbürger aus dem sogenannten „Königreich Deutschland“. Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen, liebe Leserinnen und Leser. In einem anderen Leben, es war 2017, besuchte ich aus beruflichen Gründen eine Messe in Rostock. Wie der Zufall es wollte, verwickelte mich ein freundlicher Herr in ein Gespräch. Es ging um Demokratietheorie: Mein Studienfach. Doch bald schon wurde unser Disput immer aufgeladener. Denn der Herr wollte nicht hören, dass das deutsche Grundgesetz die rechtmäßige Verfassung der BRD ist.

Mein Fehler war, mich unbewaffnet auf das Feld der Ehre begeben zu haben. Ich wünschte, ich hätte es mir ausgedacht, aber ich schwöre Ihnen: Jedes Wort ist wahr. Denn kaum wollte ich widersprechen, griff der Herr zu seiner Waffe – metaphorisch gesprochen. Aus seinem Rucksack zog er ein großes Paket Alufolie. Darin eingeschlagen sein heiliger Gral: Eine original Haager Landkriegsordnung von 1913. Damit glaubte er die Beweisführung abschließen zu können. Denn dort sei das letzte Mal festgehalten worden, welches Recht im Besatzungsfall gelte. Und da Deutschland seit 1945 keinen offiziellen Friedensvertrag habe ...

Ich bin sicher, den Rest können Sie sich denken. Für mich war es der erst echte Kontakt mit einer Ideologie, die so vielfarbig ist, dass es bis heute den Medien, den Behörden und der Gesellschaft schwerfällt, sie zu greifen. Und auf ihre eigene Art ist sie Ausdruck unserer Zeit geworden. Wo beginnen Wahrheit und Lüge? Wo enden legitime Debatten und wo beginnt der wahnhafte Blick auf die Moderne?

Das gleiche Lied seit 200 Jahren: Antisemitismus

Reichsbürger sind ein Phänomen – ein Ausdruck von Unsicherheit in einer Zeit, in der viele Menschen die Flut an Information nicht mehr einordnen können. Sie vermischen Halbwahrheiten mit Emotionen. Und wenn man genau hinsieht, erkennt man sie dahinter immer wieder: die Fratze des Judenhasses, des Antisemitismus. Wo das Übel der Welt gelenkt wird aus den Hinterzimmern der Parteibüros und der Medienhäuser. Wem zum Schaden? Na klar: dem deutschen Michel. Wem zum Nutzen? Den Weisen von Zion.

Es bleibt das gleiche Lied, seit bald 200 Jahren. Theodor Adorno hat ganze Bücher darüber geschrieben, wie ausgerechnet der Rationalismus der Aufklärung die schlimmsten Formen des Aberglaubens hervorbringt. Es ist das Kreuz der Moderne, dass mit ihren Errungenschaften auch die Überforderung mancher Menschen einhergeht. Und wer sich überfordert fühlt, der ruft nach dem starken Mann: dem Vater, dem König, dem Führer.

Ist es nicht bemerkenswert, dass diejenigen, die allezeit nach Freiheit schreien, sich im nächsten Atemzug stets unterordnen wollen? Die wollen, dass ihnen ein starker Mann sagt, wo es lang geht? Am Ende sind diese Leute nicht frei. Sie haben ihre Freiheit eingetauscht für Sicherheiten, die keine sind. Sie sind längst Gefangene in ihrem Sektenwahn.

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