Göttingen. Wie kann die Zukunft funktionieren? Ein Göttinger Soziologe spricht im Interview über Alltagsverdruss und Zukunftssorgen.

Chaos im Zugverkehr, Kliniken vor dem Kollaps, Lieferengpässe bei Medikamenten, Mangel an Fachkräften, explodierende Preise: Vieles lief im vergangenen Jahr nicht rund in Deutschland.

Der Verdruss über die Gegenwart sei bei den Menschen 2022 erheblich gewachsen, sagt Professor Berthold Vogel vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Viele fragen sich, wie die Zukunft funktionieren soll, wenn nicht mal die Gegenwart klappt.“

Herr Professor Vogel, wir stehen am Anfang eines neuen Jahres. Viele Menschen sorgen sich nicht nur um die Zukunft, sondern auch, weil sie das Gefühl haben, dass Deutschland sich herunterwirtschaftet. Teilen Sie diese Ansicht?

Berthold Vogel Die Sorge um die Zukunft, der Druck, aufgrund von Klimawandel und Energiekrise alles möglichst schnell verändern zu müssen, ist das eine. Das andere ist die sehr gegenwärtige Erfahrung, dass wir in Infrastrukturen leben, die verschlissen oder nicht mehr funktionstüchtig sind. Das betrifft sehr viele öffentliche Einrichtungen, Dienstleistungen und Güter.

Woran liegt das?

Die zentrale Ursache sind fehlende Investitionen. Das gilt für Bahn und Schienennetz, für Gesundheitswesen und Rettungsdienste, für den baulichen Zustand von Schulen, Gerichtsgebäuden und Verwaltungen. Es ist zum Teil erbarmungswürdig, was man dort vorfindet – einer reichen Gesellschaft nicht würdig.

Was hat das für Auswirkungen?

Die fehlenden Investitionen machen sich nicht nur in der Infrastruktur bemerkbar, sondern auch daran, dass diese Orte immer unattraktiver als Arbeitsplatz werden. Der Nachwuchs fehlt – mehr und mehr. Das gilt für die technischen und verwaltenden Bereiche des öffentlichen Sektors, es gilt insbesondere im Gesundheitsbereich, aber selbst in Schulen oder der Justiz. Die fehlende Attraktivität macht sich nicht nur an der Entlohnung fest, sondern auch an den Zuständen, auf die potenzielle Arbeitskräfte dort treffen. Egal, wo wir in unseren Studien im öffentlichen Sektor fragen, der Tenor der Mitarbeiter lautet: Wir müssen mehr und mehr unter widrigen Bedingungen arbeiten. Dabei sind es genau die Orte, die für Gesundheit und Bildung, für Recht und Teilhabe sorgen, die also unsere Gesellschaft zusammenhalten. Wir haben uns den leichtfertigen Luxus erlaubt, öffentliche Infrastrukturen zu lange zu vernachlässigen und den Menschen, die öffentliche Berufe ausüben, keine Aufmerksamkeit zu schenken.

Fachkräfte fehlen aber nicht nur im öffentlichen Sektor …

Ja, das Gleiche gilt zum Beispiel auch für das Handwerk. Auch hier fehlt es an Investition und Innovation. Die berufliche Ausbildung, jenseits von Abitur und Studium, wurde über Jahrzehnte als zweitbeste Lösung betrachtet. Nicht zu studieren, galt als Ausweis fehlender Chancengleichheit. Wenn es das bildungspolitische Ziel ist, möglichst viele Abiturienten zu produzieren, dann wundert es nicht, dass es heute an denen fehlt, die dafür sorgen, dass wir eine Energiewende hinbekommen, dass wir resiliente, klimagerechte Infrastrukturen schaffen. Die Abwertung handwerklicher Berufe ist ein Fehler, der nun unter demografisch schwierigen Bedingungen kaum mehr zu heilen ist.

Was muss geschehen?

Es braucht erhebliche Investitionen – auf kommunaler Ebene, in technische Infrastrukturen, unter anderem in das Schienennetz und den Nahverkehr, in die Daseinsvorsorge, aber auch in den Naturschutz und unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Denn diese sind genauso heruntergewirtschaftet – auf fruchtbaren Böden stehen Logistikzentren, die Artenvielfalt schwindet dramatisch. Wir brauchen eine Politik, die öffentliche Güter stärkt und Kommunen handlungsfähig macht, die sparsamen Ressourcenverbrauch prämiert, die lokale Wirtschaft, die vor Ort Verantwortung übernimmt, stärkt. Kurz: Wir müssen widerstandsfähige Strukturen schaffen.

Sind Sie zuversichtlich, dass das gelingt?

Grundsätzlich gilt: Niedergangs-Fantasien sind keine guten Ratgeber, um die Gesellschaft von morgen zu gestalten. Zunutze machen sich Untergangs-Narrative gerne diejenigen, die keine Lösungen, aber ein Interesse an gesellschaftlicher Spaltung haben. Wir leben in einer freiheitlichen Gesellschaft, einer funktionierenden Demokratie, in der Extremisten bislang nur geringe Chancen haben. Zudem sind wir eine reiche Gesellschaft, nicht nur materiell, auch kulturell und reich an engagierten Menschen. Das zu übersehen, dieses Grundkapital, diese Ressourcen, wäre fahrlässig. Doch auf der anderen Seite hilft auch naiver Optimismus nicht weiter. Der Glaube, dass sich alles richten wird und wir nur die richtigen Techniken finden müssen, damit alles so bleiben kann, wie es ist, ist eine gewaltige Selbsttäuschung. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich in ihrem inneren Gefüge immer stärker trennt, in der die Lebenswirklichkeiten der Menschen einander immer weniger ähneln. Die Folge: Verlust- und Abstiegsängste wachsen, Konflikte um Wohlstand nehmen zu. Dennoch: Wir sollten und müssen die Vielfalt sowie die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten für die Entwicklung des öffentlichen Lebens und der Demokratie nutzen.

Was muss konkret getan werden?

Die Antwort von uns Wissenschaftlern heißt „Soziale Orte“. Dieses Konzept, an dem wir aktuell forschen, benennt die Verwundbarkeit unserer Gesellschaft ebenso wie die Initiativen, die positive Akzente in Zeiten sich verringernden materiellen Wohlstands setzen. „Soziale Orte“ macht Menschen sichtbar, die sich für ihre Nachbarschaft, ihr Dorf, ihr Stadtquartier, ihre Region engagieren – sei es in genossenschaftlichen Aktivitäten gegen Leerstand, in Initiativen für bessere Mobilität, in Flüchtlingsinitiativen, Hausaufgaben- oder Nachbarschaftshilfe oder bei den Tafeln. Wichtig ist, dass diese „Sozialen Orte“ unterstützt werden – von den Kommunen, von lokalen Betrieben.

Das hört sich nach dem guten, alten Leben an, nach einer „Tante-Emma-Laden-Idylle“, die sich mancher zurückwünscht …

Keineswegs. Ein Zurück gibt es nicht, aber es gibt auch keinen Grund, den Wunsch, dass Dinge wieder greifbarer, erreichbarer und leichter handhabbarer werden, als rückwärtsgewandt abzutun. Es gibt, jenseits von Nostalgie, eine Rückkehr zum Lokalen und Regionalen. Bürger- und Quartiers-Energiesysteme werden helfen, die Energiewende zu schaffen. Regionale Wirtschaftsverbünde stärken Handwerk und lokale Betriebe, sodass auch junge Leute eine Chance im ländlichen Raum haben. Kulturinitiativen setzen auf Vielfalt und machen gleichwertige Lebensverhältnisse zum Thema. Die Stärkung des Kommunalen muss politisch gestützt und gestärkt werden. epd