Northeim. Am 15. November 1992 ereignet sich in Northeim ein schweres Zugunglück. Polizeichef war damals Hans Walter Rusteberg. Im Interview erinnert er sich.

Am Sonntag, dem 15. November 1992, ereignete sich um 1.30 Uhr eines der schwersten Zugunglücke der Bahngeschichte in Südniedersachsen. Der damalige Polizeichef von Northeim, Hans Walter Rusteberg, berichtet im Gespräch, wie er die Katastrophe erlebt hat.

Damals hatte Rusteberg die Position gerade übernommen und war erst zwei Monaten nach seiner Versetzung aus Lüneburg Leiter des Polizeiabschnitts Northeim, der deckungsgleich mit dem Landkreis Northeim war. Damals bestand noch eine andere Polizeiorganisation in Niedersachsen.

In diesen ersten zwei Monaten konnte er die verantwortlichen Personen des Landkreis Northeim als untere Katastrophenschutzbehörde in einer Planbesprechung kennen lernen. Darüber hinaus gab es in dieser Zeit eine enge Verzahnung von Rettungsdiensten, Feuerwehr und Polizei bei einer Tunnelübung auf der ICE-Schnellfahrstrecke.

Wie haben Sie den 15. November 1992 in Erinnerung?

Am Samstag, dem 14. November war ich mit Freunden auf einer Ü30-Party. Glücklicherweise war ich als Fahrer vorgesehen und dann gegen 1 Uhr zu Hause im Bett. Die Dienststelle war etwas stärker besetzt, da am bevorstehenden Volkstrauertag möglicherweise Auseinandersetzungen mit einem extremen politischen Hintergrund (Aktionen der später verbotenen FAP) zu erwarten waren. Gegen 1.40 Uhr, ich war gerade fest eingeschlafen, klingelte das Telefon. Noch etwas verschlafen hörte ich dann einen Kollegen, der eigentlich nicht im Dienst war, von einem schweren Zugunglück im Bahnhof Northeim berichten.

Wie reagierten Sie dann?

Nach ein paar Nachfragen setzte ich mich ins Auto und fuhr in Uniform zur Dienststelle, dort versorgte ich mich mit einem Handfunkgerät (Handys gab es noch nicht) und weiteren Informationen. Mit einem Streifenwagen wegen der Funkanbindung und der Erkennbarkeit ging es dann über die Bundesstraße in Richtung Bahnhofsvorplatz. Schon auf der Anfahrt sah man, dass ein Waggon in Höhe der dortigen Unterführung verunfallt und damit die Bundesstraße unterbrochen war.

Wie war dann der Eindruck auf dem Bahnhofsvorplatz?

Ein erster Eindruck, den man nicht vergisst: Der Bahnhof war nachts geschlossen, es war dunkel, hin und wieder leuchtete ein Lichtbogen auf, die Oberleitung war noch nicht geerdet, der erste Streifenwagen mit zuckendem Blaulicht erhellte die Szene gespenstisch, Menschen rannten verletzt, geschockt, verwirrt über den Vorplatz, nachdem sie sich selbst befreien konnten, Schreie der Verletzten, auch in fremder Sprache, und aus der Ferne waren die Martinshörner der herannahenden Rettungskräfte zu hören. Ein riesiges Trümmerfeld, das sich wegen fehlender Beleuchtung nur erahnen ließ, umherliegende Gepäckstücke und aufgerissene Waggons bildeten eine unwirkliche Szene.

Was genau war im Vorfeld passiert?

Der Fernschnellzug D 428 „Innsbruck-Kopenhagen“, Start in München um 19.03 Uhr, mit etwa 200 Reisenden befuhr zum Unglückszeitpunkt mit rund 115 km/h den Bereich des Bahnhofs Northeim, als an dem mit etwa 90 km/h entgegen kommende Güterzug ein Puffer abriss, ins Gleisbett fiel und 15 von 43 Güterwaggons entgleisen ließ. Vom entgegenkommenden Personenzug waren sieben von zwölf Reisezugwaggons (Sitz,- Liege,- und Schlafwagen) betroffen, die umstürzten oder aus den Gleisen sprangen. Ein riesiges Trümmerfeld, dessen Ausmaß erst mit dem Tageslicht deutlich wurde, war entstanden.

Was war die Folge?

Neben den ganz erheblichen Sachschäden waren elf Tote und 52 Schwerst- und Leichtverletzte zu beklagen, darunter waren Schweden, Afrikaner, Dänen und Italiener, soweit ich mich noch an die Nationalitäten erinnere. Besonders tragisch ist die Tatsache, dass Zugsicherungssysteme diesen Unfall verhindert hätten, wenn der Personenzug nur 30 Sekunden später in den Bahnhof Northeim eingefahren wäre.

Wie kamen dann genug Einsatz-und Rettungskräfte zum Ort?

Über die jeweiligen Leitstellen wurde natürlich Vollalarm gegeben, dabei war es besonders wichtig, die jeweiligen Not- und Rettungswege frei zu halten und An- und Abfahrt so zu koordinieren, dass keine gegenseitige Blockade erfolgte. Besonders beeindruckend war dabei auch für mich, wie viel Menschen sich sowohl von den Rettungsdiensten als auch von der Polizei sofort anboten, mit zu unterstützen.

„Ich kann nur zufrieden und auch etwas stolz sein, wenn ich darauf zurückblicke, was die Kolleginnen und Kollegen in dieser Nacht und den darauf folgenden Tagen geleistet haben. Das gilt aus meiner Sicht für alle beteiligten Kräfte der verschiedenen Organisationen“, erzählt Hans Walter Rusteberg, damals Polizeichef.
„Ich kann nur zufrieden und auch etwas stolz sein, wenn ich darauf zurückblicke, was die Kolleginnen und Kollegen in dieser Nacht und den darauf folgenden Tagen geleistet haben. Das gilt aus meiner Sicht für alle beteiligten Kräfte der verschiedenen Organisationen“, erzählt Hans Walter Rusteberg, damals Polizeichef. © HK-Archiv | Mark Härtl

Wie lief die Koordination und Absprache vor Ort?

Aus den Erfahrungen der vorangegangenen Übungen bzw. Besprechungen heraus wurde jeweils ein Führungsfahrzeug der Feuerwehr, des Rettungsdienstes und der Polizei quasi zu einer integrierten Befehlsstelle zusammen auf dem Vorplatz aufgestellt, so dass Informationen direkt mitgehört bzw. auf Zuruf ausgetauscht werden konnten. Insgesamt ist ja der Einsatz von rund 300 Feuerwehr- und 50 THW-Kräften, 100 Ärzten (viele niedergelassene Ärzte, die zur Unfallstelle kamen) und rund 30 Polizeibeamte und Polizeibeamtinnen zu koordinieren gewesen.

Welche besonderen Herausforderungen gab es für die eingesetzten Polizeikräfte?

Die Personalienfeststellung, es gab ja keine Passagierlisten, wer ist in Sicherheit, wer ist wo im Krankenhaus oder gar tödlich verletzt worden? Das Ausmaß der Schadensstelle verbunden mit der Frage der Ursache, die Vielzahl der Notrufe – über 110, mehr als 150 Anrufe von Angehörigen und Konsulaten liefen in kurzer Zeit in der Wache auf – die Dauer des Rettungseinsatzes, beispielsweise konnte der getötete Lokführer erst Stunden später aus dem Führerstand geborgen werden, der einsetzende Katastrophentourismus – erst mit Unterstützung des Bundesgrenzschutzes, heute Bundespolizei, konnte die Unglücksstelle komplett abgesperrt werden, die Zuordnung der Gepäckstücke, die weit verstreut in großer Anzahl aufgefunden wurden. Insgesamt sind alle polizeilich zu treffenden Gefahrenabwehr- und Ermittlungsmaßnahmen in solch einem Schadensereignis nach Art und Umfang eine Besonderheit.

Welche Rückmeldungen gab es?

Eine Vielzahl von Dankesbezeugungen von Angehörigen und Betroffenen, aber auch den Besuch des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder vor Ort und in einer später stattgefundenen Nachbesprechung mit allen Organisationen.

Nachbesprechung ist das Stichwort, gab es eine Aufarbeitung bzw. Nachsorge für die Einsatzkräfte?

Ja, dieses Angebot bestand für die Einsatzkräfte und wurde nach meiner Erinnerung auch von vielen Kräften wahrgenommen, so etwas schüttelt man nicht einfach ab. Von daher ist es gut, dass diese Angebote seither ständig verbessert und ausgebaut wurden.

Wie ist Ihr persönlicher Eindruck zur Einsatzbewältigung?

Ich kann nur zufrieden und auch etwas stolz sein, wenn ich darauf zurückblicke, was die Kolleginnen und Kollegen in dieser Nacht und den darauf folgenden Tagen geleistet haben. Das gilt aus meiner Sicht für alle beteiligten Kräfte der verschiedenen Organisationen.