Osterode. Die AfD tritt mit einem Comic zur Landtagswahl an – das vollständige Wahlprogramm hingegen ist nur schwer zu finden.

„Auf dieser Seite finden Sie unser Wahlprogramm in voller Länge“, steht auf der Webseite der niedersächsischen AfD. Nur ist dort weit und breit kein Wahlprogramm in voller Länge in Sicht. Dafür ein Link „zum vollständigen Wahlprogramm“, der dann allerdings nur die Kompaktversion des Programms in einem neuen Fenster öffnet. Klingt verwirrend? Ist es auch. Erst eine Bestellung per E-Mail befördert die 84-seitige Komplettfassung (die letzten drei Seiten sind leer) zu Tage. Mit dem telefonischen Hinweis auf die fehlende Langfassung auf der Webseite fängt die AfD auch Wochen später nichts an. Digitalisierung ist schwierig – oder wollte die Partei ihr Programm vor neugierigen Wählern verstecken?

Dafür gibt es auf der Seite, die eigentlich für die vollständige Fassung da sein sollte, eine 16-seitige Comic-Version des Wahlprogramms mit dem Titel „Familie Meiers – eine Familie in Niedersachsen“. Da stehen dann Christian, 36-jähriger Fensterbauer, und seine 32-jährige Frau Lisa von der Inflation frustriert im Supermarkt oder wütend auf die Energiewende in ihrer Küche und formulieren sehr anschlussfähige Forderungen – Lösungsvorschläge tauchen in dem Bildbändchen hingegen gar nicht auf.

Für die AfD hat’s auch ein Deutscher formuliert

Und damit zu den Inhalten: „Wir stehen im Geiste der Aufklärung“, heißt es in der Präambel des Wahlprogramms, gefolgt von einem Kapitel über die Grundwerte der Partei, in dem der Corona-Evergreen „Freiheit des Einzelnen“ lauwarm vor sich hin köchelt. Diese Freiheit hört nämlich immer nach dem Einzelnen auf, und das sieht die Aufklärung anders: „Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet“, heißt es in der französischen „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1789.

Für die AfD hat’s auch ein Deutscher formuliert: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“, schrieb Kant 1797 in seiner „Metaphysik der Sitten“. Im Geiste der Aufklärung ist diese einzelne Freiheit also nicht.

Online-Diskussion zur Landtagswahl 2022 in Niedersachsen

Am Dienstag, 27. September, veranstalten wir ab 18 Uhr eine digitale Podiumsdiskussion mit den Landtagskandidaten unseres Wahlkreises.

Senden Sie uns gerne Ihre Frage per Mail an redaktion-harzkurier@funkemedien.de oder per Post an Harz Kurier Redaktion, Gipsmühlenweg 2-4, 37520 Osterode am Harz. Betreff: „Wahldiskussion“.

Bitte schreiben Sie dazu, ob Ihre Frage an alle oder nur an einzelne Kandidaten geht. Bitte teilen Sie uns außerdem mit, ob Sie mit der Nennung Ihres Namens einverstanden sind.

Am Abend der Diskussion haben Sie außerdem die Möglichkeit, Ihre Fragen unter der Nummer (05522) 3170-444 zu stellen. Da wir nur eine Leitung zu Verfügung haben, bitten für eventuelle Wartezeiten um Verständnis.

Die Diskussion wird live auf harzkurier.de und der Facebook-Seite des Harz Kurier übertragen. Auch dort haben Sie über die Kommentar-Spalte die Möglichkeit, Fragen zu stellen.

Wegen der begrenzten Zeit für die Diskussion behält sich die Redaktion vor, eine Auswahl an Publikumsfragen zu treffen. Ähnliche Fragestellungen werden unter Umständen zusammengefasst.

Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme!

An anderer Stelle macht es sich die AfD noch leichter: Dem Grundgesetz und der niedersächsischen Verfassung möchte die Partei „wieder uneingeschränkte Geltung“ verschaffen. Das Wörtchen wieder suggeriert dabei einen angeblichen früheren Zustand uneingeschränkter Grundrechte, nimmt natürlich Bezug auf den Irrglauben an grenzenlose Freiheitsrechte. Dass es die nicht gibt, zeigt schon ein Blick in die ersten Paragrafen des Grundgesetzes: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“, heißt es da, oder: „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Uneingeschränkt klingt anders.

Der Traum einer unbeschwerten Jugend

Aber klar: So funktioniert der Populismus. Sag den Leuten, was sie hören wollen und formulier es so, dass es auf Protestschilder passt. Das macht die AfD vor allem mit dem Comic gut. Da überlegt zum Beispiel Mutter Lisa: „Werden die Kinder überhaupt noch eine unbeschwerte Jugend haben können?“ Dagegen wird niemand etwas einwenden. Wer wünscht Kindern schon keine unbeschwerte Jugend?

Eine Antwort auf die Frage spart sich der Comic aber – die wäre ja auch zu ungemütlich für das Wohlfühlzuhause mit den Kinderfotos an der bunten Tapete, in dem Mutter Lisa steht: Nein, wahrscheinlich werden die Kinder keine unbeschwerte Jugend haben können. Globale Krisen und der teure Umgang mit ihnen bürden den jungen Generationen eine große Last auf. Würde sich Deutschland aber aus seinen gegenwärtigen außenpolitischen Verantwortungen zurückziehen, würde das Land von wichtigen Handelspartnern isoliert, das würde die Jugend von Lisas Kindern also auch nicht unbeschwerter machen. (Außerdem: Wessen Jugend war schon wirklich unbeschwert und ist das überhaupt was schlechtes?)

Alles unter Ideologieverdacht

Fensterbauer Christian philosophiert auf seiner Comic-Baustelle auch über die Jugend: „56 angebliche Geschlechter kennen, aber den einfachsten Dreisatz nicht lösen können. Was fängt so ein Jugendlicher nur mit seinem Leben an“, fragt er sich. Erstens: Kennen Sie einen solchen Jugendlichen persönlich? Zweitens: Unbeschwerte Jugend und Dreisatzlernen, das passt nicht zusammen.

Aber im Ernst – die AfD erfindet da Jugendliche, die es nicht gibt, um einen zustimmungsfähigen Punkt in ihrer Anhängerschaft zu machen: Zu viel Sex und zu wenig Mathe in der Schule, soll das wohl heißen.

Niedersächsische Landtagswahl 2022 im Wahlkreis 12 Göttingen/Harz

Im April hatten wir die Kandidatinnen und Kandidaten des Wahlkreises 12 (Göttingen/Harz) für die Landtagswahl in kurzen Interviews zu Wort kommen lassen und Ihnen Fragen zur jeweils aktuellen Welle des Niedersachsen-Check gestellt.

Lesen Sie dazu in dem Format:

Ali Abo Hamoud will seiner neuen Heimat Harz etwas zurückgeben

Jannik Föhrke möchte kaum gehörte Stimmen vertreten

Stefan Henkel möchte die ländliche Region stärken

Almut Mackensen möchte Politik für den Harz gestalten

SPD-Kandidat Saade- Für Weltoffenheit und Solidarität

Dort und auch fast überall sonst wittert die AfD Ideologie: ideologische Verkehrspolitik, ideologische Energiewende, ideologische Inklusion. Dafür wird gefordert: Ideologiefreie Bildung! Niedersächsische Universitäten seien zu einem „Experimentierfeld praxisferner Theoretiker“ geworden. Abgesehen davon, dass der deutsche und also auch niedersächsische Hochschulbetrieb seit Jahren immer praxisnäher wird und das keineswegs nur gut ist, kann dieser Passus als Frontalangriff auf wichtige Grundlagenforschung verstanden werden.

Und überhaupt dieser ständige Ideologievorwurf, der die AfD wohl in Abgrenzung dazu als Gipfel des Pragmatismus inszenieren soll. Dafür tauchen in ihrem Wahlprogramm vier kategorische Ablehnungen auf, etwa Sonderförderungen und Sonderrechte für nichtdeutsche Bevölkerungsgruppen lehnt sie kategorisch ab. Das ist wenig pragmatisch und zeugt von einem geschlossenen Denksystem, ist ideologisch – wie sowieso alles Politische, das auf irgendjemandes Wertesystem basiert.

Wie mit gefälschtem Ausweis Bier zu kaufen

Am Ende muss man wieder auf den Anfang schauen: „Wir sind überzeugte Demokraten“, steht in der Präambel an dritter Stelle in einem gefetteten Stichpunkt.

Wer sich ins Wahlprogramm schreiben muss, überzeugter Demokrat zu sein, ist in etwa so unauffällig wie ein 15-Jähriger, der mit gefälschtem Ausweis Bier kaufen will und ihn dem Supermarktkassierer ungefragt vor die Nase hält um zu zeigen, dass er alt genug ist.