Berlin. Vor dem Groko-Sonderparteitag wächst Nervosität in der SPD-Parteispitze. Juso-Chef Kühnert wehrt sich gegen Vorwurf von Nahles.

Es brodelt in der SPD. Die große Unruhe vor dem Sonderparteitag, der Ja oder Nein zu
Koalitionsverhandlungen sagen muss, ist am Donnerstag an der Taktzahl der Pressekonferenzen in Berlin abzulesen. Fast stündlich laden mehr oder weniger prominente Genossen zu Hintergrundgesprächen, Twitter- und Facebook-Fragestunden ein, um für und gegen eine Große Koalition mit der Union zu argumentieren. Der brisanteste Termin spielt sich um 11 Uhr im Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale, ab. Kevin Kühnert, der stets analytisch-besonnene Juso-Chef und das Gesicht der No-Groko-Bewegung, muss sich plötzlich dem Vorwurf stellen, er wiegele mit Unwahrheiten und Unschärfen den Widerstand gegen den Kurs der SPD-Spitze auf.

Andrea Nahles hat das in den Raum gestellt. Im Interview mit unserer Zeitung sagte die Fraktionschefin, Kühnert habe es bei einem Landesparteitag mit den Fakten nicht so genau genommen. „Was der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert in Sachsen-Anhalt zum Thema Rente gesagt hat, ist schlichtweg falsch“, so Nahles. Kühnert weist das zurück: „Ich kann für mich und für uns ganz beruhigt festhalten, dass wir da mit uns im Reinen sind.“ Wer von beiden hat recht? Beide.

Kühnert hatte am Wochenende in Wernigerode, wo er mit einer mitreißenden Rede die dortigen SPD-Delegierten zu einem knappen Nein zur Groko bewegte, das Sondierungsergebnis von Union und SPD kritisiert. Dieses sieht vor, die gesetzliche Rente auf heutigem Niveau von 48 Prozent bis zum Jahr 2025 abzusichern. Für Kühnert eine Scheineinigung: „Das Rentenniveau wird überhaupt erst nach den aktuellen Prognosen nach 2024 unter 48 Prozent rutschen“, sagte er und bezog sich auf den Rentenversicherungsbericht 2024.

Der Erfolg, von dem Nahles spricht, ist tatsächlich überschaubar: Das Rentenniveau soll künftig ein Jahr länger auf 48 Prozent bleiben. Ohne Eingreifen der Politik wird es 2025 auf 47,4 Prozent absinken und nicht erst danach. In führenden Parteikreisen wurde das Scharmützel mit Unverständnis verfolgt. Nahles’ Kritik sei zwar verständlich, sie mache Kühnert aber unnötig größer, als er sei, wenn sie sich an ihm abarbeite, hieß es. Der Juso-Chef glaubt unverdrossen, die Groko-Gegner hätten eine „echte, reale Chance“, die Abstimmung auf dem Parteitag an diesem Sonntag in Bonn zu gewinnen. Lehnen die 600 Delegierten mehrheitlich Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU ab, steht ein Rücktritt von Schulz im Raum.

Der gescheiterte Kanzlerkandidat hat sich schon mehrfach als Überlebenskünstler gezeigt. Noch am Wahltag lehnte er wie die gesamte Parteispitze eine Regierungsbeteiligung vehement ab. Nach dem Ausstieg der FDP aus den Jamaika-Gesprächen folgte der 180-Grad-Schwenk der SPD: doch keine Opposition, dafür „ergebnisoffene Gespräche“ mit CDU und CSU. In diesem Sinne betonte auch Kühnert, nichts werde besser in der SPD, „wenn am Sonntag wild drauflos zurückgetreten wird“.

Schulz selbst zeigte sich gestern demonstrativ an der Seite der Gewerkschaften. Zuvor hatte die Parteispitze im Willy-Brandt-Haus mit dem DGB-Vorstand beraten. Gewerkschaftschef Reiner Hoffmann warb für die Neuauflage einer Großen Koalition. „In dem Sondierungspapier ist für Arbeitnehmer deutlich mehr enthalten, als Jamaika jemals hinbekommen hätte“, sagte er. Ein „richtiger Kracher“ sei eine
Mindestausbildungsvergütung für Lehrberufe. Dieses Paket könne man „nicht einfach auf der Straße liegen lassen“.

Schulz sagte dem DGB zu, in Koalitionsverhandlungen erneut zu versuchen, die Union dazu zu bewegen, von der Befristung vieler Arbeitsverträge abzusehen. „Insofern sind die Themen, die bei der Sondierung auf dem Tisch lagen, durch den Abschluss der Sondierungen nicht vom Tisch.“

Dies widerspricht allerdings einer Ansage von Nahles. Sie warnte im Interview mit unserer Zeitung vor „Illusionen“ bezüglich Nachverhandlungen mit der Union. „Ich streue den Leuten keinen Sand in die Augen.“ Schulz umwirbt die Skeptiker außerdem mit dem Argument, dass die SPD zur Halbzeit einer künftigen Regierung – also im Jahr 2020 – eine Zwischenbilanz der Koalitionsarbeit ziehen wolle. Diese „Revisionsklausel“ könnte auch einen Ausstieg zur Folge haben.

Die Ex-SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering, Kurt Beck und Hans-Jochen Vogel riefen im „Tagesspiegel“ ihre Partei auf, den Weg für Koalitionsverhandlungen frei zu machen. Müntefering warnte, ansonsten werde die SPD „eine derjenigen Sozialdemokratien werden, die in Europa keine Rolle mehr spielen“.