Kiew. Eine geheime Partisanen-Gruppe verübt auf der Krim Anschläge und sichert Informationen. Putin kommt vor Ort zunehmend in Bedrängnis.

Im Jahr 2023 hat die Ukraine zwar ihr strategisches Ziel nicht erreicht, die sogenannte Landbrücke zur russisch besetzten Krim zu durchbrechen und bis zur Grenze vorzustoßen. Das muss man so festhalten. Dennoch war das vergangene Jahr auch für die russischen Streitkräfte auf der Krim alles andere als erfolgreich. Die russische Schwarzmeerflotte hat nach mehreren Luftschlägen und Angriffen mit innovativen Seedrohnen seitens der Ukraine ihren Hauptstützpunkt Sewastopol größtenteils verlassen und sich in den Hafen Noworossijsk im Bezirk Krasnodar zurückgezogen.

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Die russischen Schiffe versuchen zudem, so wenig Zeit wie möglich auf der Krim zu verbringen. Und auch nur dann, sobald es dringend notwendig ist: Die Beladung der Schiffe mit Marschflugkörpern ist nur in Sewastopol möglich, und auch die Infrastruktur zur großangelegten Reparatur gibt es im Schwarzen Meer lediglich auf der Halbinsel.

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Die Ukrainer können das als Erfolg verbuchen. Dafür sind gleich mehrere Akteure verantwortlich: Die Piloten der Luftstreitkräfte, die die britischen Marschflugkörper „Storm Shadow“ einsetzen, aber auch die ukrainischen Seestreitkräfte, die zusammen mit den Geheimdiensten die Seedrohnen entwickelt haben.

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Allerdings gibt es noch eine weitere Gruppe, die womöglich einen entscheidenden Beitrag geleistet hat: die Partisanenbewegung „Atesch“. Der Begriff stammt aus dem Krimtatarischen und bedeutet so viel wie Feuer. Dies könnte theoretisch darauf hinweisen, dass der Kern der „Atesch“-Leute aus Krimtataren besteht, den Ureinwohnern der Halbinsel, die unter Stalin nach Zentralasien deportiert wurden und erst Ende der 80er Jahre zurückkehrten.

Ukraine: Partisanen arbeiten im Geheimen – eine besondere Regel gilt

Wie „Atesch“ aufgebaut ist und ob hinter der Namenswahl psychologische Spielchen stehen, ist unklar. Selbst Angehörige der krimtatarischen Minderheit, die auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet lebt, schließen meist kategorisch aus, dass ihre Volksgruppe etwas mit der Bewegung zu tun haben könnte. Kein Wunder, denn eine solche Struktur kann auf dem besetzten Gebiet nur unter strenger Geheimhaltung funktionieren.

Bekannt ist, dass die „Atesch“-Agenten einander keinesfalls kennen dürfen und dass sie lediglich über sichere Kanäle mit einem Koordinator kommunizieren. Russische Kriegsblogger versuchen stets, den Eindruck zu vermitteln, „Atesch“ sei nur eine ukrainische Propaganda-Erfindung und existiere in Wirklichkeit gar nicht.

Ukrainische Soldaten an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut: Eine Partisanen-Bewegung sorgt mit spektakulären Sabotageakten für Aufsehen.
Ukrainische Soldaten an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut: Eine Partisanen-Bewegung sorgt mit spektakulären Sabotageakten für Aufsehen. © Alex Babenko/AP/dpa | Unbekannt

Selbst offizielle russische Medien scheinen jedoch an diese Darstellung nicht zu glauben: Sie nehmen immer wieder auf die Partisanen-Bewegung Bezug und bezeichnen sie nicht selten als „Terrororganisation“. Der BBC gelang neulich der Coup: Die Journalisten konnten mit fünf „Atesch“-Agenten sprechen. Einzige Bedingung: Sie mussten anonym bleiben. Einer der Agenten soll aktuell sogar selbst bei den russischen Streitkräften dienen. „Es steht sehr viel auf dem Spiel“, sagte er. „Niemand will ins Gefängnis. Alles muss sorgfältig und gut überlegt angegangen werden. Fehler sind einfach inakzeptabel.“

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Die Erzählungen der Agenten lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Die BBC zitiert allerdings Quellen bei den ukrainischen Geheimdiensten, die die Angaben für möglicherweise wahr halten. Einer der von der BBC befragten Agenten begründete seine Zustimmung zu dem Interview mit dem Wunsch, mehr Menschen für „Atesch“ anzuwerben. „Nicht alle Krim-Bewohner sind Zombies“, sagte er. „Es gibt Menschen, die bereit sind, selbst unter den Bedingungen der totalen Zensur Widerstand zu leisten.“ Ein anderer Agent verrät nicht einmal seinen engsten Verwandten, welcher Tätigkeit er nachgeht: „Russische Geheimdienste versuchen ständig, die Partisanen zu finden.“

Die heftigen Gefechte in der Ukraine gehen weiter.
Die heftigen Gefechte in der Ukraine gehen weiter. © Efrem Lukatsky/AP/dpa | Unbekannt

Ukraine: Partisanen-Gruppe liefert Kiew essenzielle Informationen

Wer von Partisanen liest und von Agenten, der denkt schnell an den harten Kampf der Widerständler im Zweiten Weltkrieg oder an den Ober-Agenten 007. Die Hauptbeschäftigung der Partisanen von der Krim ist weniger filmreif. Es geht überwiegend darum, der ukrainischen Armee Informationen darüber zu liefern, wo sich Anlagen der russischen Flugabwehr befinden, wo neue Munitionslager aufgemacht werden, welche Soldatenbewegungen es wohin gibt und welche Stützpunkte existieren, die vielleicht zuvor unbekannt waren.

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Manchmal werden solche Orte von den Partisanen wochen- oder gar monatelang überwacht. Es handelt sich um riskante und zugleich extrem wichtige Einsätze: Weil etwa Marschflugkörper wie der „Storm Shadow“ sehr teuer sind, muss die Ukraine vor ihrem Einsatz genau wissen, wohin sie diese schießt. Die von den westlichen Verbündeten zur Verfügung gestellten Satellitenbilder helfen zwar, doch ohne eigene Menschen vor Ort bekommt Kiew kein rundes Bild.

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Die von der BBC befragten „Atesch“-Agenten geben an, die Bewegung sei im vergangenen Jahr an der Zerstörung eines großen russischen Landungsschiffes sowie eines wichtigen U-Bootes beteiligt gewesen. Außerdem hätten sie ihre Finger im Spiel gehabt bei dem erfolgreichen Schlag gegen das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte. Beobachter halten die Schilderungen für glaubwürdig: Denn obwohl die Lage des Hauptquartiers allgemein bekannt ist, braucht man dabei gute Kenntnisse über die Flugabwehrstellungen, um die feindliche Luftverteidigung zu umgehen.

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Inwieweit die „Atesch“-Partisanen auch außerhalb der Krim in Sabotageaktionen involviert waren, kann man nicht mit Bestimmtheit sagen. Immerhin aber reklamierten sie die Tötung des prorussischen Funktionärs Kirill Stremoussow im November 2022 im teils besetzten Bezirk Cherson für sich, außerdem den Anschlag auf den russischen Schriftsteller und Propagandisten Sachar Prilepin in der russischen Region Nischni Nowgorod im Mai 2023.