Berlin. Sahra Wagenknecht möchte die politische Landschaft mit ihrem Bündnis auf den Kopf stellen, nun hat ihr Projekt eine erste Architektur.

Sahra Wagenknecht will Enttäuschten eine neue Heimat bieten – nun ist klarer, wer die Heimatlosen sind. Die 54-Jährige empfängt sie am Samstag in einem ehemaligen DDR-Kino im Osten Berlins. Der DEFA-Kultfilm „Die Legende von Paul und Paula“ feierte dort 1973 seine Premiere. Überliefert ist, dass er vom Publikum 20 Minuten Applaus erhielt. Wagenknecht reichen zweieinhalb Minuten, dann will sie die Begeisterung ihrer Anhänger mit demütiger Geste herunter dimmen. Von 450 Erstmitgliedern, die seit Gründung des „Bündnisses Sahra Wagenknecht“ (BSW) der Partei beitreten durften, sind 382 beim Gründungsparteitag dabei – viele von ihnen waren früher bei der Linken oder bei Wagenknechts gescheiterter „Aufstehen“-Bewegung. Man kennt sich.

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Was alle eint, ist die Bewunderung für ihre Parteivorsitzende: Wagenknecht ist ihre linkskonservative Gallionsfigur. Und sie enttäuscht die Erwartungen schon allein optisch nicht. Im knallroten Kostüm mit gewohnt streng zurückgebundenem Haar betritt sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem ehemaligen SPD- und Linkenvorsitzenden Oskar Lafontaine den Saal – ihm ist die Abschlussrede auf dem Parteitag versprochen. Erst vor wenigen Tagen war der 80-Jährige in das Bündnis seiner Frau eingetreten. Das Paar, aber vor allem Wagenknecht, wird geradezu frenetisch und stehend beklatscht. In ihrer Rede bedankt sie sich bei den Erstmitgliedern des BSW für deren Mut, ihr „Gesicht ganz vorn in den Wind zu halten“. Denn der scheint, zumindest nach dem Empfinden des Parteivorstands, besonders rau zu sein.

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Kritische Meinungen – etwa zum Ukraine-Krieg – würden als „rechtsoffen“ diffamiert, beklagt die Co-Parteivorsitzende Amira Mohamed Ali. Auch Wagenknecht spricht von einem sich verengenden Meinungsspektrum innerhalb der Gesellschaft, das Debattenklima sei roh geworden. Wie zum Beweis schießt sich der Parteitag danach auf die Grünen ein: die „ahnungslose“ Grünen-Chefin Ricarda Lang etwa, die nicht wisse, wie viel Geld ein durchschnittlicher Rentner hat. Wirtschaftsminister Robert Habeck, der ganz Deutschland eine Wärmepumpe verordnen wolle. Und Außenministerin Annalena Baerbock, die den Rest der Welt über Moral belehre. Misst man die Geschlossenheit dieser BSW-Truppe am Applaus, scheint das Feindbild im Parteienspektrum klar gesetzt.

Wagenknecht fordert Massenproteste gegen die Ampel

Die Empörung über die Ampel-Koalition und insbesondere die Grünen ist so groß, dass sich Schatzmeister Ralph Suikat zu Beginn seiner Rede outet, als befände er sich in der Vorstellungsrunde einer Selbsthilfegruppe. „Liebe Freundinnen und Freunde, ich war ein Ampel-Wähler …“ Das BSW versteht sich, um in diesem Bild zu bleiben, als Immuntherapie gegen das politische Chaos. Und Wagenknecht stellt das Rezept aus. Sie habe durchaus auch Angst vor einem Erstarken der AfD, erklärt Wagenknecht in ihrer Rede. Doch anstatt gegen Rechtsextremismus auf die Straße zu gehen, müssten die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland für konkrete Ziele demonstrieren: etwa einen Mindestlohn von 14 Euro, höhere Renten, einen Mietendeckel, Neuwahlen und das Ende der Ampel. „Dafür bräuchten wir Massendemonstrationen“, so die Parteigründerin.

Sahra Wagenknecht (l.) und Amira Mohamed Ali wollen das BSW als Doppelspitze zum Erfolg führen.
Sahra Wagenknecht (l.) und Amira Mohamed Ali wollen das BSW als Doppelspitze zum Erfolg führen. © DPA Images | Kay Nietfeld

Die BSW-Erstmitglieder fordert Wagenknecht auf, zusammenzuhalten, sie sollten „pfleglich miteinander umgehen“. Man sei keine „Linke 2.0“ und wolle keine Partei der „Intrigen und des Postengeschachers wie alle anderen“ werden – ein hehres Ziel angesichts der Tatsache, dass auf dem Parteitag mehrere ehemalige oder aktuelle Mitarbeiter des Büros von Wagenknecht (und der Ehemann von Mohamed Ali) für den erweiterten Bundesvorstand oder die BSW-Europawahlliste kandidieren. Ein exklusiver Kandidatenkreis. Es bleibt nicht der einzige schwer aufzulösende Widerspruch, mit dem das Bündnis in seiner Gründungsphase zu kämpfen hat.

BSW mit klarem Feindbild – erst die Grünen, dann die AfD

Eine „konsequente“ Friedenspolitik auszurufen und zugleich die Wirtschaftssanktionen gegen ein Russland aufheben zu wollen, das einen erbarmungslosen Krieg in Europa losgetreten hat, ist dafür nur ein Beispiel. Doch Wagenknecht sieht nicht Präsident Putin in der Pflicht, seine Politik zu ändern, sondern die Bundesregierung. Die Ukrainer müssten leiden, um „unsere Freiheit zu verteidigen“, erklärt sie. Das sei „unverantwortlich und menschenverachtend“. Dass das BSW damit dem Pfad der AfD folgt, ficht Wagenknecht nicht an. Die Parteigründerin mag ohnehin nicht mehr in Kategorien wie rechts und links denken. Jahrelang habe man den Leuten „eingehämmert, dass alles Vernünftige rechts sei“, behauptet sie. Da sei es nicht verwunderlich, dass die Leute irgendwann tatsächlich eine rechte Partei wählten – und zwar die AfD.

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Geht es nach dem BSW, kann man links sein und gegen das Gendern, gegen Wokeness und gegen Klimakleber. Man kann links sein und dennoch für eine strengere Migrationspolitik. Alles unter dem Mantra der Vernunft. Mit dieser Gewissheit beschließt die Partei auch ihr Europawahlprogramm – und zwar einstimmig. Darin fordert sie, den Handel mit CO₂-Zertifikaten abzuschaffen, das Verbrenner-Aus zu kippen und wieder Öl und Gas aus Russland zu importieren. BSW-Spitzenkandidat Fabio De Masi will steuervermeidenden Großkonzernen mit Sitz in Europa Strafsteuern auferlegen und Übergewinne abschöpfen, anstatt sich wie Habeck „die Haare schön zu machen und ein Video aufzunehmen“.

Sollte es gelingen, mit dieser politischen Linie am 9. Juni einen Erfolg zu feiern, will die Partei den Schwung mitnehmen bis zu den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen im September. Gerade im Osten versprechen die Umfragen eine hohe Zustimmung für die Wagenknecht-Partei. Ob dann auch ehemalige AfD-Wähler willkommen sind? Wer sich umhört unter einstigen Linken im BSW, bekommt eine klare Antwort: „Natürlich, die sind ja nicht alle rechts“.