Berlin. Nach mehrstündigen Verhandlungen haben sich Bund und Länder in Teilen geeinigt – weitere Entscheidungen wurden allerdings vertagt.

  • Der Streit über die Kosten für die Flüchtlingsaufnahme dauert an
  • Beim Treffen von Bund und Ländern zum Thema sicherte der Bund eine zusätzliche Milliarde Euro zu
  • Ein dauerhafter Finanzierungsmechanismus konnte aber nicht vereinbart werden
  • Flüchtlingsverbände, Opposition und Kommunen üben scharfe Kritik

Bund und Länder haben ihren Streit über die Verteilung der Kosten für die Flüchtlingsaufnahme entschärft, aber noch nicht beigelegt. Wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwochabend nach mehrstündigen Verhandlungen in Berlin mitteilte, stellt der Bund zusätzlich eine Milliarde Euro für die Versorgung und Integration geflüchteter Menschen bereit. Das Geld soll über die Länder an die Kommunen gehen, die den Zustrom kaum noch bewältigen können.

Ein dauerhafter Finanzierungsmechanismus muss aber noch erarbeitet werden. Dazu kam es am Mittwoch nicht. Die Länder fordern den Aufbau eines "atmenden Systems", unter anderem mit Pro-Kopf-Pauschalen: Die Zahlungen des Bundes sollen davon abhängen, wie viele Flüchtlinge tatsächlich ins Land kommen. Bund und Länder wollen jetzt gemeinsam dieses Themas annehmen. Endgültige Beschlüsse sollen bei einem Treffen im November gefasst werden. Bei einer Zusammenkunft im Juni wollen Kanzler und Ministerpräsidenten den Zwischenstand diskutieren.

Zahl der Asylerstanträge stark gestiegen

Scholz sagte am Mittwochabend: "Unser Land steht vor einer großen Herausforderung." Städte und Gemeinden leisteten Außerordentliches. In dem Beschlusspapier heißt es: "Der Bundeskanzler und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder sind sich einig, dass es sich bei der Bewältigung der Fluchtmigration um eine dauerhafte Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen handelt."

Deutschland hatte im vergangenen Jahr mehr als eine Million Schutzsuchende aufgenommen, der weitaus größte Teil von ihnen kam aus der Ukraine. Die Zahl der Asylsuchenden aus Drittstaaten nimmt wieder stark zu. In den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden 101.981 Asylerstanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entgegengenommen – ein Plus von 78 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

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Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt: "Schwierige, aber gute Beratungen"

Der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil (SPD), berichtete am Mittwochabend bei dem gemeinsamen Auftritt mit Scholz im Kanzleramt von schwierigen, aber guten Beratungen. "Wir wissen, dass die Bürgerinnen und Bürger Lösungen von uns erwarten und keinen Streit", sagte Weil. Der Sozialdemokrat begrüßte die zugesagte weitere Milliarde des Bundes für das laufende Jahr. "Diese Milliarde ist wichtig, sie löst aber nicht die Grundsatzfrage." Hinsichtlich einer dauerhaften Finanzierung seien Bund und Länder noch nicht einer Meinung.

Ähnlich äußerte sich Nordrhein-Westfalens Regierungschef Hendrik Wüst (CDU): "Wir haben heute einen ersten Schritt gemacht und einen Fahrplan verabredet." Wüst forderte wie Weil ein "faire und verlässliche" Finanzierung, darum dürfe es "kein wiederkehrendes politisches Feilschen" geben. Die Milliarde des Bundes werden von den Ländern zur Unterstützung der Kommunen und zur Digitalisierung der Ausländerbehörden eingesetzt.

Kommunen und Länder einigten sich auf gemeinsame Verhandlungslinie

In den vergangenen Tagen hatte sich bereits abgezeichnet, dass die Gespräche im Kanzleramt kompliziert werden dürften. Der Bund wollte partout kein zusätzliches Geld für die Versorgung von Flüchtlingen in Aussicht stellen und rechnete den Ländern vor, dass er in diesem Jahr alles in allem fast 16 Milliarden Euro für diesen Zweck mobilisiere. Ein zentrales Argument von Kanzler Scholz und Finanzminister Christian Lindner (FDP) lautete: Der Bund ist eigentlich gar nicht zuständig. Die Finanzen der Kommunen seien laut Grundgesetz Sache der Länder.

Die Länder wiesen ihrerseits in den vergangenen Tagen die Berechnungen des Bundes als irreführend zurück. Die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen sei eine gesamtstaatliche Aufgabe, argumentierten sie. In enger Absprache mit den Kommunen verständigten sich die Länder auf eine gemeinsame Verhandlungslinie, die sämtliche Ministerpräsidenten unabhängig von ihrem Parteibuch mittrugen.

Im Zentrum ihrer Forderungen stand mehr Geld für die Kommunen. Die Grünen, die gemeinsam mit SPD und FDP die Ampelkoalition bilden, scherten in den vergangenen Tagen aus der Regierungslinie aus und forderten ebenfalls, die Kommunen stärker zu unterstützen.

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Asylverfahren sollen durch Digitalisierung beschleunigt werden

Um die Migration nach Deutschland insgesamt besser zu steuern und zu begrenzen, setzten Bund und Länder jetzt unter anderem auf beschleunigte Asylverfahren, die auch an den EU-Außengrenzen stattfinden sollen. Sie wollen zudem Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber erleichtern und mit Herkunftsstaaten neuartige Rücknahme- und Migrationspartnerschaften abschließen. Scholz sprach am Mittwochabend auch von Kontrollen an den deutschen Staatsgrenzen. Der Bund dringt auch darauf, dass Asylverfahren in Deutschland weitgehend digitalisiert werden. Das soll die Verfahren beschleunigen, weil keine Papierakten mehr durchs Land transportiert werden müssen.

Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl kritisierte heftig, dass sich Bund und Länder für Asylverfahren an den Außengrenzen stark machen. Die rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl, Wiebke Judith, sagte unserer Redaktion: "Pro Asyl ist schockiert, dass der Gipfel zu einer Finanzeinigung auf Kosten der Menschenrechte fliehender Menschen geführt hat. Haftzentren an den EU-Außengrenzen sind das Rezept für ein menschenrechtliches Desaster. Die Bundesregierung muss dringend zu einer menschenrechtsbasierten Politik zurückkehren!" Judith ergänzte, man könne nur hoffen, dass in wenigen Wochen nicht die gleiche Debatte tobe. Denn die heftigen Debatten der vergangenen Tage seien "Wasser auf den Mühlen der Rechtspopulisten" gewesen.

Landkreise nach Flüchtlingsgipfel enttäuscht

Auch die deutschen Landkreise haben enttäuscht auf die Ergebnisse des Bund-Länder-Treffens reagiert: "Mit einer Vertagung drängender Probleme können die Landkreise nicht wirklich zufrieden sein", sagte der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, dieser Redaktion. "Wir haben mehr erwartet und sind enttäuscht." Die Forderungen der Landkreise nach einer Begrenzung des Zustroms an Flüchtlingen, nach Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht und nach einer besseren finanziellen Unterstützung der Kommunen blieben deswegen weiter auf der Tagesordnung.

CDU-Chef Friedrich Merz warnte nach dem Gipfel vor einer neuen Migrationskrise. "Ohne wirksamen Grenzschutz, Druck auf die Herkunftsstaaten und eine echte Rückführungsoffensive schlittert Deutschland in eine neue Migrationskrise“, sagte Merz unserer Redaktion. Die irreguläre Migration müsse spürbar begrenzt und gesteuert werden, so der Unionsfraktionsvorsitzende.

"Scholz spielt auf Zeit und will Probleme aussitzen", kritisierte Merz den Bundeskanzler. Derweil werde die Situation für Helfer, Landräte und Geflüchtete immer schwieriger. Bei ihrem Spitzentreffen im Kanzleramt am Mittwoch hatten sich Bund und Länder nach stundenlangen Verhandlungen darauf geeinigt, dass der Bund eine Milliarde mehr an finanzieller Unterstützung für die Versorgung von Flüchtlingen überweist.