Berlin. Der türkische Präsident ist angeschlagen: Die Gründe für den drohenden Machtverlust bei der Wahl – und was jetzt Sorgen machen muss.

Es wird eng für den türkischen Präsidenten Erdogan bei den Wahlen in gut zwei Wochen. Noch ist nicht klar, wie ernsthaft der 69-Jährige erkrankt ist, aber die Absage von Wahlkampfauftritten und mehr noch die Fernsehbilder vom unterbrochenen LIve-Interview sind für Erdogan so oder so politisch gefährlich: Sie verstärken den Eindruck, dass dem Präsidenten nach 20-jähriger Herrschaft die Kräfte ausgehen. Der Autokrat ist politisch angeschlagen, bei den Wahlen am 14. Mai könnte er sein Amt verlieren.

Nicht der Präsident, sondern Oppositionsführer Kiliçdaroğlu liegt in vielen Umfragen vorn, ein Machtwechsel ist zum Greifen nah. Eine schwere Wirtschaftskrise mit irrwitzig hoher Inflation hat den Boden bereitet. Aber der Schlüsselmoment für Erdogans Popularitätsverlust war das verheerende Erdbeben im Februar mit über 50.000 Todesopfern, das auch für seine Anhänger Schwächen des Regimes sichtbar gemacht hat: Die übertriebene Zentralisierung der Macht, eine parteiische Justiz, Günstlingswirtschaft und Korruption haben den türkischen Staat von innen ausgehöhlt.

WahlTürkei-Wahl 2023
(Stichwahl)
DatumSonntag (28. Mai 2023)
OrtTürkei
Gewählt wirdPräsident
Wahlberechtigt sindRund 64 Millionen Menschen
Kandidaten für PräsidentenamtRecep Tayyip Erdoğan (69) und Kemal Kılıçdaroğlu (74)

Angeschlagener Erdogan: Steht der Türkei ein Polit-Beben bevor?

Deshalb, so sagen es Kritiker, kam nach dem Erdbeben die staatliche Hilfe für das Katastrophengebiet viel zu spät. Deshalb haben die mit Erdogans Gefolgsleuten, nicht mit Experten besetzten Behörden über Jahre alle Warnungen in den Wind geschlagen und auf Vorsichtsmaßnahmen verzichtet. Das Beben konnte nur diese hohe Zahl an Menschen unter Trümmern begraben, weil in den Jahren des Baubooms viele illegale, nachträglich abgesegnete Schrottbauten entstanden.

Korrespondent Christian Kerl.
Korrespondent Christian Kerl. © Funke | Privat

Dass Erdogan 2017 mit dem Wechsel zum Präsidialsystem seine Macht ausgebaut hat und allein durchregiert, rächt sich jetzt: Wenn der Staatsführer alle Fäden in der Hand hält, muss er sich auch die Versäumnisse persönlich anrechnen lassen. Das ist neu für den Präsidenten: Er hat viele Krisen überstanden, Massenproteste brutal niedergeschlagen, einen Putschversuch vereitelt und nach seiner Verwandlung vom Reformer zum Autokraten kritische Oppositionspolitiker einfach ins Gefängnis werfen lassen. Stets blieb er an der Macht.

Aber das jetzt sichtbare Versagen kostet Vertrauen auch in jenen Wählerschichten, die bisher zu Erdogan gehalten haben. Mit einem Füllhorn an staatlichen Wohltaten versucht er die Anhänger bei der Stange zu halten. Doch hat die Opposition erkannt, dass sich in diesem Frühling die einmalige Chance auf einen Machtwechsel bietet. Frühere Streitigkeiten ruhen, ein breites Sechser-Bündnis von Nationalisten bis Islamisten will die tiefe Spaltung des Landes überwinden und den Weg zurück zu Rechtsstaat und parlamentarischer Demokratie einschlagen.

Unsicher, ob Oppositionsbündnis auch eine Regierung bilden könnte

In Europa darf diese Allianz auf viel Wohlwollen rechnen. Wer hatte noch erwartet, dass die Herrschaft des Autokraten in Ankara, der sich so weit vom Westen entfernt hat und Menschenrechte mit Füßen tritt, durch Wahlen beendet werden könnte?

Ob die mühsam geschmiedete Sechs-Parteien-Allianz nach einem Wahlsieg auch eine stabile Regierung bilden könnte, steht auf einem anderen Blatt. Die inneren Differenzen sind groß, ideologische Konflikte sind nur vertagt. Die große Frage zuvor ist allerdings: Werden die Wahlen überhaupt frei und fair über die Bühne gehen? Wird Erdogan eine Niederlage anerkennen?

Sicher ist das nicht. Sobald er den Präsidentenpalast verlässt, droht ihm eine Anklage wegen Korruption. Ob ernsthaft krank oder nicht: Erdogan dürfte alles daran setzen, an der Macht zu bleiben. Es könnte sehr unruhig werden rund um die Schicksalswahlen in der Türkei.

Türkei

Recep Tayyip Erdogan