Braunschweig. In Braunschweig und vielen anderen Städten werden die Karstadt-Häuser schließen. Doch ein Professor glaubt an die Tragfähigkeit dieser Idee.

Prof. Carsten Wirth (60) lehrt an der Hochschule Darmstadt. Er selbst studierte Volkswirtschaftslehre, heute sind Arbeitswissenschaft, Personalmanagement und Industrielle Beziehungen seine Schwerpunkte.

Sehr geehrter Herr Prof. Wirth, ich möchte Sie zunächst etwas Persönliches fragen: Gehören Sie zu den vielen Menschen, bei denen das Wort „Karstadt“ auch gleich Kindheitserinnerungen weckt?

Ja, durchaus. Ich komme aus einem Dorf bei Mannheim. Natürlich fuhren wir zum Hosenkauf nach Mannheim. Ich erinnere mich daran, wie wir zuerst bei Horten, dann bei Hertie, bei Karstadt und im Kaufhof geschaut haben. Gekauft haben wir dann bei C&A, da war’s dann doch am billigsten. Ja, das waren lange Samstagstouren mit meinen Eltern, die bei Karstadt immer in die aus meiner Sicht falschen Abteilungen gingen. Ich wollte lieber in die Spielwarenabteilung

Carsten Wirth ist Professor in Darmstadt.
Carsten Wirth ist Professor in Darmstadt. © Hochschule Darmstadt | Hochschule Darmstadt

Wir sind auf Sie aufmerksam geworden, weil Sie vor einigen Wochen einen Aufsatz geschrieben haben, in dem Sie darlegen, dass die Idee des Warenhauses durchaus tragfähig sein könnte. Angesichts der Kaskade negativer Nachrichten, die auch aus unserer Braunschweiger Perspektive schmerzlich aktuell sind, würde mich interessieren, wie Sie das meinen.

Wenn wir verstehen wollen, was heute vor sich geht, müssen wir zunächst einen Schritt zurückgehen. Der Niedergang der Warenhäuser begann eigentlich in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die Deckungsbeitragsrechnung eingeführt wurde und als man begann, die Verkaufsflächen nach ihren Roherträgen zu bewerten. Seither ging es immer um die Frage, ob man eine Fläche selbst bewirtschaftet oder sie im Sinne sicherer Mieteinnahmen an andere vermietet. Die Warenhäuser haben nach und nach die Kontrolle über das verloren, was unter ihrem Dach geschah. Und sie haben sich zunehmend zentralisiert. Das Ergebnis waren immer marktfernere Entscheidungen. In bestimmten Regionen sind die Bedürfnisse nun einmal andere als anderswo, auch die Konkurrenzverhältnisse. Aus meiner Sicht bräuchte es heute ein stark dezentralisiertes und ein kompetentes Management vor Ort. Die Produkt- und Preispolitik muss den lokalen Verhältnissen angepasst werden.

Aber ist die ganze Idee des Warenhauses mit „Vollsortiment“ nicht von Grund auf die der Zentralisierung?

Ja, womöglich. Aber das muss nicht so sein. Die Karstadt-Geschichte der letzten vierzig Jahre zeigt ja auch, dass dies nicht gut ist. Die lokalen Geschäftsführungen wurden fortlaufend entmachtet. Irgendwann hatte der Karstadt-Geschäftsführer vor Ort ungefähr die Position eines Rewe-Marktleiters. Das kann aber bei einem richtigen Warenhaus-Sortiment nicht funktionieren. Ein Beispiel: In touristischen Regionen können Sie auch im September noch Badehosen verkaufen, in Mannheim oder Braunschweig eher nicht. Das kann ein zentrales Management nie so genau wissen und berücksichtigen, wie man das vor Ort kann.

Die Krise der Warenhäuser währt schon so lange, es gab diverse Wechsel an der Spitze, Unternehmensberatungen und dergleichen. Wieso ist das Ruder nie in diesem Sinne herumgerissen worden?

Der entscheidende Punkt ist: Die Warenhäuser sind Teil der Immobilienwirtschaft geworden. Eine Zäsur war aus meiner Sicht das Jahr 2000, als Walter Deus nach Kritik an seiner Unternehmensführung als Vorstandsvorsitzender des Karstadt-Quelle-Konzerns in den Ruhestand eingetreten ist. Schon der Nachfolgekonzern Arcandor war in erster Linie ein Immobilienprojekt, was sich über branchenfremde Investoren wie René Benko natürlich fortgesetzt hat. Es ging primär darum, Immobilien zu verwerten – und das funktioniert nach anderen Gesetzen als Einzelhandel, in dem die Pflege von Lieferantenbeziehungen, Kundenbeziehungen und die Ausbildung und Motivation eines kompetenten Personals die Hauptrolle spielen oder besser: spielen sollten. Wir sprechen also über den Übergang von der Warenwirtschaft zur Immobilienwirtschaft. Und zugleich wissen wir, dass es regional und lokal den Bedarf an Warenhäusern durchaus gibt. Ich nenne die Stichworte demographischer Wandel, Klimakrise, Migration. Ich möchte damit nur den Hintergrund für meinen Appell ausleuchten: Aus verschiedenen Gründen brauchen wir in unseren Städten dringend Warenhäuser. Als Magneten fürs Umland. Der Bedarf ist gegeben, vieles hängt davon ab. Zum Beispiel wird die Schließung der Häuser jetzt auch ein harter Schlag für den benachbarten Mittelstand sein. Ein Umsatzverlust von nur zehn Prozent durch den Wegfall eines solchen Ankers für Kundinnen und Kunden ab vierzig dürfte für einige nicht zu verkraften sein.

Doch nun erklären Sie bitte, wie Sie das in Ihrem Aufsatz gemeint haben mit der „Tragfähigkeit“ der Warenhäuser! Wie soll das laufen?

Auf jeden Fall dezentral. Zum Beispiel als Genossenschaft. In anderen Ländern sind Handelsgesellschaften so organisiert, in Zusammenarbeit mit den Kommunen und den Beschäftigten. Kundinnen und Kunden könnten Anteilseigner werden. Auch die Form einer kommunalen Gesellschaft halte ich für denkbar. Und natürlich gibt es Beispiele für erfolgreiche, privat und eben auch innovativ geführte Warenhäuser, das Heidelberger Modehaus Niebel fällt mir ein.

Ist es nicht zu spät für solche Ideen? Das Kind ist doch längst in den Brunnen gefallen, oder?

Natürlich ist es verdammt spät. Immerhin könnte man sagen: Die Immobilien der Schließungshäuser dürften ja jetzt auf den Markt kommen. Und natürlich könnten da wie so oft ein paar teuer vermietete Wohnungen entstehen, einige Büros, ein Fitnessstudio und unten Gastronomie und ein schicker Lebensmittelladen. Das würde sich bestimmt rentieren. Aber die fundamentale Funktion eines Warenhauses, nämlich Bedürfnisse einer ganzen Region zu befriedigen, wird so nicht erfüllt. Stattdessen erleben wir die weitere Verödung der Innenstädte.

Schlägt jetzt also die Stunde der Bürgermeister?

Ja, das kann man sagen. Ich möchte aber ergänzen: Es muss auch die Stunde der Ratsfraktionen sein und die Stunde der Bürgerinnen und Bürger. Vielleicht auch die Stunde der Bundesregierung. Die darf Benko und Co. nicht weiter das Geld hinterherwerfen. Ich weiß nicht, wie die Kredite gesichert sind, niemand weiß, ob die jemals zurückgezahlt werden und wie lange die Gläubiger, die nun wieder vor harten Schnitten stehen, noch Geduld haben. Doch wäre es generell nicht ohnehin besser, etwas anderes zu unterstützen – nämlich aussichtsreiche lokale Warenhaus-Projekte? Eine Ampel-Koalition könnte das sehr wohl mit Krediten unterstützen – gebunden an die Kriterien, die zur sozial-ökologischen Transformation im Einzelhandel passen, nicht zuletzt die Tarifbindung. Sogar die Hochschulen vor Ort könnte man einbinden im Sinne eines Forschungsprojektes, das dabei hilft zu ermitteln, was ein zukunftsfähiges Warenhaus lokal auszeichnet. Ja, das dauert alles und ist kompliziert. Doch die letzte Chance, hier einzusteigen, scheint mir jetzt gekommen zu sein. Es muss doch mehr geben als Shopping-Malls an den Autobahnen und Onlinehandel… Dauernd klingelt es, weil der Nachbar mal wieder nicht das Paket annehmen kann. Und am Samstag sieht man die Menschen, wie sie die Pakete fast alle zur Post zurückbringen. Ja, die Post verdient gut – aber ökologisch ist das eine Katastrophe. Eine lokale Reform der Versorgung erscheint mir ein überaus wichtiges Projekt. Der Umgang mit Waren könnte und müsste viel sinnvoller sein.