Braunschweig. Das Hotel lädt die Reisegruppe aus dem Landkreis Göttingen aus. Begründung: Man käme aus einem Risikogebiet. Die Zahlen sind uneindeutig.

Ich bin für jede Maßnahme, die der Gesundheit dient und die Verbreitung der Corona-Pandemie verhindert. Diese Maßnahme des Hotels in Büsum erscheint mir jedoch überzogen.

Das sagt Siegfried V. nach seiner Ausladung

Zu dem Thema recherchierte
Dirk Breyvogel

Siegfried V. aus Herzberg am Harz (vollständiger Name der Redaktion bekannt) fühlt sich in Sippenhaft genommen. Er würde für etwas verantwortlich gemacht, was er letztlich nicht zu verantworten habe. Aber der Reihe nach: Über ein Jahr plant V. zusammen mit seiner Frau und Freunden eine Reise an die Nordsee. Am 30. Juni sollte es frühmorgens nach Büsum in Schleswig-Holstein gehen. Die Koffer ins Hotel sind schon vorgeschickt. „Ein nettes kleines Hotel, günstig, mit gutem Frühstück und in der Nähe des Strandes. Wir waren schon öfters dort“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

„Urlauber aus Landkreis Göttingen nehmen wir nicht auf“

Dann ein Anruf am Tag vor der geplanten Abreise, der den Herzberger verstört, bis heute. Am Apparat ist die Rezeption der Unterkunft. „Urlauber aus dem Landkreis Göttingen dürfen wir nicht aufnehmen“, erklärt man ihm. Denn der Kreis gehöre zu einem ausgewiesenen Risikogebiet, so wie Gütersloh und Warendorf, bei dem sich in der Fabrik des Fleischfabrikanten Tönnies hunderte osteuropäische Arbeiter infiziert hatten.

Sein Hinweis, der Kreis Göttingen liege aktuell deutlich unter dem Richtwert von 50 Neuinfektionen innerhalb von sieben Tagen pro 100.000 Einwohner, bei dessen Überschreitung sich Bund und Länder auf die Verschärfung von Lockdown-Maßnahmen verständigt hatten, verpufft. Auch die Anmerkung, Herzberg im Altlandkreis Osterode liege 35 Fahrminuten von der Universitätsstadt Göttingen entfernt, stößt auf taube Ohren. „Alle Überredungskünste versagten, auch wenn man natürlich merkte, wie schwer der Geschäftsführerin dieser Schritt gefallen ist“, berichtet V.. Doch ihr Entschluss steht fest und ist nicht verhandelbar. Wie bei einem Türsteher, der sich entschieden hat: Du kommt hier heute Abend nicht in die Disco.

Corona-Neuinfektionen Landkreis Göttingen
Corona-Neuinfektionen Landkreis Göttingen © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Siegfried V. hat zwar auch heute kein Verständnis für die Absage, dennoch will er die Betreiber des Hotels nicht öffentlich am Pranger sehen. Er wolle auch künftig dort Urlaub machen können. Auch deshalb wolle er seine Geschichte nur anonym erzählen – und den Namen des Hotels nicht preisgeben. Er sagt beschwichtigend: „Wir wurden ja nicht rausgeschmissen. Aber uns wurde deutlich gesagt, dass wir unerwünscht sind.“ Ohne gültigen negativen Corona-Test müssten wir zwei Wochen vor Ort in Quarantäne gehen, sei ihm gesagt worden. „Bei einer Reise von einer Woche ist das natürlich keine Alternative.“

Die Infektionslage des Landkreises Göttingen

Die Corona-Situation des Landkreises Göttingen ist ohne Übertreibung als schwierig zu bezeichnen. Immer wieder wurde er in den letzten Wochen öffentlich als „Hotspot“ bezeichnet, andere sagen: er wurde gebrandmarkt.

Hochhäuser als Hotspot in der Uni-Stadt

Schlagzeilen machte vor allem Anfang und Mitte Juni der Corona-Ausbruch in zwei Göttinger Wohnhaus-Komplexen und die anschließende Quarantäne-Anordnung der Stadt. Es folgten Reihentestungen der Bewohner, deren Ergebnisse sich auch signifikant bei der Zahl der Neuinfektionen des Landkreises widerspiegeln. „Wer viel testet, bekommt auch viele Ergebnisse – und im Zweifel auch positive Corona-Tests“, sagt der Sprecher des Landkreises, Ulrich Lottmann, gegenüber unserer Redaktion. Er versteht den Ärger der reiselustigen Herzberger, sagt aber auch: „Wir hatten im Grunde über mehrere Monate im gesamten Kreis immer wieder regional begrenzte Hotspots. Erst in mehr als ein Dutzend Altenheimen im Kreis Osterode, dann die Sache in Göttingen und erst vor kurzem hatten wir den Infektionsausbruch unter Spätaussiedlern im Grenzdurchgangslager Friedland.“ Obwohl man diese regionalen Brandherde schnell hätte austreten können, zeige die Statistik diese Ereignisse deutlich.

Neuinfektionen: Dreimal die Marke 50 gerissen

Als Beleg für die gute Eindämmungspolitik führt Kreissprecher Lottmann an, dass sich die Landesregierung in Niedersachsen dagegen entschieden habe, besondere Vorkehrungen für einreisende Touristen beziehungsweise härtere Lockdown-Maßnahmen wie in Gütersloh oder Warendorf für die gesamte Bevölkerung des Kreises anzuordnen. Vergleichbare Fälle von „Ausladungen“ aus Ferienorten sind Lottmann nicht bekannt.

Schaut man sich die Zahl der Neuinfizierten des Kreises in den vergangenen Wochen an (siehe Grafik), wurde im Juni dreimal die Grenze von 50 Neuinfektionen gerissen, nämlich am 22., 23. und 24. Juni. Seit dem 25. Juni habe der Wert beständig und deutlich drunter gelegen, sagt Lottmann. Er weist jedoch auch daraufhin, dass das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin den Landkreis Göttingen immer unterhalb der 50-Neuinfektionen-Grenze geführt habe. Ein Blick in die Zahlen belegt die Richtigkeit seiner Aussage. Ein ermittelter Wert von 48,2 Neuinfektionen war am 23. Juni der höchste vom RKI gemessene Wert. Auch andere Leser, die sich solidarisch mit der Herzberger Reisegruppe gezeigt hatten, hatten auf diese Tatsache verwiesen.

Das sagt das Gesundheitsministerium in Kiel zu dem Fall

Das Land Schleswig-Holstein, in dem der Küstenort Büsum liegt, hat mit Blick auf die beliebten Ziele an seiner Nord- und Ostseeküste in einer Verordnung Richtlinien festgelegt, an die sich Gäste, aber auch Hotelbetreiber halten sollten. Alles müsse laut eines Sprechers des Gesundheitsministerium in Kiel in respektvoller Absprache zwischen Gästen und Gastgebern geschehen. „Um ein unbeschwertes Urlaubsvergnügen in Schleswig-Holstein zu gewährleisten, ist die gegenseitige Information für alle Beteiligten sinnvoll.“

Hat das Hotel überreagiert?

Das Ministerium macht aber deutlich, dass das Büsümer Hotel möglicherweise überreagiert habe. Anders ist die Antwort auf die Frage, ob Vorgaben des Landes das Verhalten der Hotelbesitzerin rechtfertigen würden, nicht zu interpretieren. In einer Mail an unsere Redaktion erklärt ein Ministeriumssprecher: „In Schleswig-Holstein besteht kein Beherbergungsverbot, auch nicht für Personen aus Risikogebieten. Für Hotels oder Ferienwohnungsbetreiber erwachsen aus der Quarantäne-Verordnung des Landes keine Verpflichtungen, sich Testergebnisse vorlegen zu lassen.“ Weiter heißt es aber auch: „Verpflichtungen aus der Quarantäne-Verordnung des Landes erwachsen für den Einreisenden, nicht für den Gastgeber. Das Hausrecht ist davon unberührt. Der Gast sollte im Sinne eines guten Miteinanders sein Hotel/ seinen Ferienwohnungsbesitzer informieren, wenn er aus einem Risikogebiet einreist – auch vor Anreise. Umgekehrt sollte der Gastgeber frühzeitig seine Gäste über die Regelungen des Landes informieren, wenn sie erfahren, dass ihre Gäste aus Risikogebieten einreisen.“

Der Antwort des Ministeriums ist aber auch zu entnehmen, dass der Landkreis Göttingen zu keinem Zeitpunkt als Risikogebiet ausgewiesen wurde. „Der Landkreis Göttingen war gemäß der Bestimmungen der Quarantäne-Verordnung des Landes Schleswig-Holstein nie Risikogebiet. Das Land orientiert sich an den durch das RKI veröffentlichten Zahlen zur 7-Tage-Inzidenz . Der Kreis Gütersloh, bis zum 6. Juli, sowie der Kreis Warendorf, bis zum 25. Juni, galten beide als inländische Risikogebiete.“ Bewohner aus diesen Kreisen hätten Auflagen erfüllen müssen, entweder eine Quarantänepflicht bei Einreise oder der Nachweis eines negativen Corona-Tests. Beide Auflagen seien mittlerweile zurückgenommen worden, „für den Kreis Warendorf galt dies bis zum 9. Juli, für den Kreis Gütersloh bis zum 10. Juli“, erklärt das Ministerium. Diese Auflagen hatte auch die Geschäftsführerin in Büsum ins Spiel gebracht. Offenbar wider besseres Wissen.

Auf welcher Datenlage erfolgte die Ausladung?

Unklar ist, auf welcher Informationsgrundlage das Hotel in Büsum die Ausladung gegenüber der Reisegruppe aussprach. Unwahrscheinlich ist allerdings, dass den Betreibern die Zahlen des Landkreises Göttingen vorlagen. Diese würden im Nachhinein sogar ihre Entscheidung bestätigen. So weisen die Behörden in Schleswig-Holstein Urlauber explizit auf die Eigenverantwortung ihres Handelns hin. So heißt es auf der Internetseite des Bundeslandes: „Wichtig ist, dass Sie noch vor Ihrer Einreise überprüfen, ob Sie innerhalb der vergangenen 14 Tage vor geplanter Einreise in einem Risikogebiet waren.“ Mit Blick auf die geplante Reisezeit umfasst die 14-Tage-Frist auch den Zeitraum, in dem der Landkreis Göttingen an drei Tagen über der Marke von 50 Neuinfektionen lag. Die RKI-Zahlen belegen das wie gesagt aber nicht.

Anmerkungen der niedersächsischen Verbraucherzentrale

Die Verbraucherzentrale Niedersachsen hat zuletzt immer wieder Fragen von Bürgern auf den Tisch, die vor einer Urlaubsreise im Inland stehen und nicht wissen, welche Regeln in den einzelnen Bundesländern zu beachten sind. „Viele rufen sogar noch aus dem Urlaub an und fragen uns, ob sie ihren Urlaub abbrechen müssen“, sagt Tiana Preuschoff vom Referat Verbraucherrecht. Es sei sinnvoll einen Tag vor Fahrtantritt, sich auf der Internetseite des RKI zu informieren. Hier würde sehr genau für jeden Landkreis die Corona-Situation aufgeschlüsselt. Auch die Verordnungen der einzelnen Bundesländer sollten mit Blick auf mögliche Verschärfungen unbedingt im Auge behalten werden. Zur Frage, wer bei Reiseausfällen für entstandene Kosten haftbar gemacht wird, gebe es noch keine eindeutige Rechtssprechung. Das würde von Fall zu Fall bewertet. Gerichte müssten prüfen, wer sich hier nicht an die Spielregeln gehalten habe. „Es kann sein, dass der Vermieter seine Unterkunft nicht hätte vermieten dürfen. Genausogut ist es möglich, dass auch der Urlauber die Reise nicht hätte antreten dürfen“, so Preuschoff.

Herzberger will zur Reha Ende Juli nach Schleswig-Holstein

Im Fall von Siegfried V. ist die Kostenfrage nachrangig. Für den Trip nach Büsum war er noch nicht in Vorkasse gegangen. Da habe man sich gegenseitig vertraut, sagt er. Ärgerlicher sei, dass einige Reiseteilnehmer immer noch auf die vorgeschickten Gepäckstücke warten würden. Ein Koffer sei gänzlich verschollen, sagt er. Dafür könne aber das Hotel nichts, sondern das Paketunternehmen.

Der Herzberger will Ende Juli den nächsten Versuch wagen, nach Schleswig-Holstein einzureisen. Drei Wochen Reha stehen an. Er habe schon die zuständige Kurverwaltung angerufen und ihnen die Lage erklärt. Auch die verlange von ihm einen negativen Corona-Test, der nicht älter als 48 Stunden ist. Er müsste das wohl nicht machen. Der Landkreis Göttingen liegt (Stand 14. Juli) bei unter einer Neuinfektion am Tag. Aber was ist, wenn sich Kriterien für Risikogebiete wieder ändern? Der Rentner ist zu allem entschlossen. Er wird sich testen lassen, auch, wenn es das selbst zahlen muss. Er will endlich an die Küste.