Braunschweig. Aus ihrer Sicht ist sogar zu überlegen, ob die Einschränkungen kurzfristig noch verstärkt werden sollten, um die Ausbreitung weiter zu bremsen.

Seit Mitte März gelten bundesweit strenge Einschränkungen. Ihr Ziel ist es, die Ausbreitung des Corona-Virus abzubremsen. Aber wie wirksam sind die Verbote eigentlich? Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig simulieren jetzt die Auswirkung verschiedener Bedingungen, um die Effekte zu messen.

Wie das HZI jetzt mitteilt, legen ihre Ergebnisse legen nahe, dass die Einschränkungen wirken. Um das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen, warnen sie aber eindringlich davor, die Beschränkungen jetzt schon zu lockern. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie jetzt auf einem Preprint-Server zur schnellen wissenschaftlichen Nutzung.

Eine entscheidende Größe in der Beschreibung der Ausbreitung eines infektiösen Krankheitserregers ist dem HZI zufolge die Reproduktionszahl. Sie gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt – damit ist sie ist ein wichtiger Indikator dafür, wie schnell sich eine Epidemie ausbreitet.

Die Wissenschaftler um den Physiker Professor Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung Systemimmunologie, errechneten nun eine zeitabhängige Reproduktionszahl des Corona-Virus für verschiedene, überlappende Zeitfenster des bisherigen Epidemieverlaufs. Fazit: Seit der Einführung der Restriktionen in allen Bundesländern ist die zeitabhängige Reproduktionszahl deutlich gesunken.

„Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bewegen sich die Werte für alle Länder in Richtung eines Wertes von 1. Unsere Daten deuten jedoch auch an, dass das kein Plateau ist“, sagt Meyer-Hermann. „Der Wert ist seit der Fertigstellung des Manuskripts in den letzten drei Tagen weiter gesunken, und diese Tendenz scheint anzuhalten.“ Das heißt, bei den derzeitigen Bedingungen des sozialen Lebens kann sich die Ausbreitung weiter verlangsamen.

Meyer-Hermann und seine Mitarbeiter haben zudem Angaben zur Anzahl stationär aufgenommener und intensivmedizinisch betreuter Patienten in ihr Model integriert. Damit können sie die Belastung für das deutsche Gesundheitssystem in verschiedenen Ausbreitungsszenarien vorhersagen. Bei einer Reproduktionszahl von 1, wie sie derzeit in den meisten Bundesländern erreicht ist, wären deutschlandweit auf ein ganzes Jahr dauerhaft 10.000 Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt.

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Laut Meyer-Hermann könne das Gesundheitssystem diese Situation gerade so verkraften, bei dieser Rate wäre jedoch nach einem Jahr nur etwa ein Prozent der Bevölkerung mit Sars-CoV-2 infiziert worden. „Eine Immunisierung der gesamten Bevölkerung ist unter Einhaltung der Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht zu erreichen“, betont Meyer-Hermann. Stiege die zeitabhängige Reproduktionszahl des Virus wieder auf ihren Wert von vor einer Woche oder vor zehn Tagen, läge die Zahl der Intensivpatienten innerhalb weniger Monate in den Hunderttausenden – das Gesundheitssystem wäre komplett überfordert, so die Wissenschaftler.

Gelänge es dagegen, die Reproduktionszahl auf Werte deutlich unter 1 zu senken, wäre die Ausbreitung des Virus nach den Berechnungen der Braunschweiger Infektionsforscher innerhalb von ein bis zwei Monaten gestoppt. Aus ihrer Sicht ist daher zu überlegen, ob die Einschränkungen im sozialen Leben kurzfristig sogar noch verstärkt werden sollten, um die Ausbreitung weiter zu verlangsamen.

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„Je weiter wir die Reproduktionszahl absenken können, desto schneller ist die Notsituation vorbei, was vielleicht sogar für strengere Maßnahmen spricht“, sagt Michael Meyer-Hermann. Es sei auch gar nicht klar, ob eine Lockerung der Maßnahmen aus wirtschaftlicher Sicht nicht schlimmer wäre, weil dies den Kampf gegen das Virus verlängert. „Wir brauchten die offiziell verordneten Einschränkungen, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Gefahr durch die Epidemie zu lenken. Sie jetzt zu lockern, ist zu diesem Zeitpunkt das falsche Signal“, sagt Meyer-Hermann.

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