„Klimakrise und Energiewende schreien geradezu nach technischen Innovationen. Wo aber sind die jungen Leute, die sich diesen Disziplinen zuwenden?“

Des Deutschen liebste Beschäftigung ist das Jammern. Das ist sogar in Studien bestätigt. Wir maulen mehr als andere. Irgendwie ist ja auch immer vieles schlecht: das Wetter, der Job, der Ehepartner, das Einkommen, das Fußballteam. Besonders gut wehklagen lässt es sich aus einer überaus komfortablen Position des Wohlstands heraus, in der wir uns so viele Jahre eingekuschelt haben. Das Problem dabei: In all dem Gemecker geht der Blick auf die wirklich kritischen Knackpunkte verloren, bis sie sich nicht mehr ignorieren lassen. Und dann, ja dann, lässt sich wirklich jammern.

So geht es uns derzeit mit vielen Themen: Klimakrise, Energie- und Verkehrswende Gesundheitssystem, Bildungssystem, Einwanderungspolitik, Infrastruktur vom Funkloch bis zur Bahnverspätung. Hinter all den Schlagworten verbergen sich massive Probleme und Versäumnisse, die dringend angegangen werden müssen.

Noch geht es uns gut

Und nun ploppt auch noch immer öfter das Thema Fachkräftemangel auf. Dabei wurde doch vor der lauernden Gefahr der Knappheit an qualifizierten Arbeitskräften schon seit mindestens zehn Jahren gewarnt. Das haben wir in all dem Gejammer aber nicht ernst genommen. Uns ging es doch gut. Und uns geht es gut – noch.

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Was die Dringlichkeit der angesprochenen Themen noch erhöht, ist der Umstand, dass wie so oft alles mit allem zusammenhängt. Die Klimakrise kann ohne Innovationen und Spezialisten kaum gemildert oder beherrscht werden. Um Experten auszubilden braucht es ein entsprechendes Bildungssystem. Eine kluge und strengere Einwanderungspolitik könnte den Arbeitsmarkt besser entlasten. Wo aber anfangen?

Bei den Fachkräften und davor in den Köpfen der Menschen. Auch wenn es die Reiferen in unserer Leserschaft schon 1000-mal gehört und gelesen haben: Deutschland wird sich als rohstoffarmes Land in einer politisch und wirtschaftlich rasant verändernden Welt nur mit Exzellenz und Expertise behaupten und den Wohlstand wahren können. Unser Kapital ist unser Wissen und die Fähigkeit, aus dem Wissen neue Produkte zu entwickeln.

Vorbei ist der Automatismus

Aber unser Wissen ist längst nicht mehr mit dem Automatismus eines Spitzenplatzes verknüpft. Eine Innovationsstudie der Ing-Bank zum Beispiel ordnet Deutschland im Vergleich 19 europäischer Staaten nur auf Platz 16 ein – vor der Slowakei, Griechenland und Italien. Die Kritikpunkte: zu wenig Jugend, zu wenig Gründer, zu wenig Digitalisierung. Schrecklich. Gleichzeitig belegen wir, wenn es ums Einkommen geht, im europäischen Vergleich hinter Dänemark und Luxemburg den dritten Rang. Das passt nicht zusammen.

Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände schlagen angesichts sich weitender Fachkräftelücken Alarm. Ohne Experten weniger Aufträge, weniger Investitionen, weniger Innovationen. Dazu passt, dass die Hochschulen von sinkenden Studierendenzahlen berichten, insbesondere in technischen Fächern. Zum Teil betragen die Rückgänge mehr als 50 Prozent. Hinzu kommt eine hohe Zahl von jungen Menschen, die ihr ursprünglich begonnenes Studium nicht zu Ende bringen.

Große technische Herausforderungen

Das Entwicklung verwundert umso mehr, weil doch die technischen Herausforderungen immens sind. Nochmal: Klimakrise und Energiewende schreien geradezu nach technischen Innovationen. Wo aber sind die jungen Menschen, die sich diesen Disziplinen zuwenden? Dasselbe gilt für viele Ausbildungsberufe in der Industrie und im Handwerk.

Der demografische Wandel, die Überalterung der Gesellschaft, ist dafür aber nur ein Grund unter mehreren. Weitere Faktoren sind unter anderem steigende Anforderungen in der Ausbildung, Imageprobleme einzelner Berufe und nach Auskunft der Arbeitsagenturen die Neigung, länger zur Schule zu gehen.

Bessere Berufsorientierung

Was also tun? Die Berufsorientierung in den Schulen muss besser, professioneller werden. Ein Hebel: Mehr Lehrlinge und Studenten gehen in den Unterricht, mehr Lehrerinnen und Lehrer in die Betriebe. Viele Unternehmen unterhalten schon Partnerschaften zu Schulen und Hochschulen, dieses Modell sollte zwingend kopiert werden. Und noch mehr Unternehmen müssen sich öffnen und eine Strategie entwickeln, um auch Studienabbrechern eine Chance zu geben.

Nach Einschätzung zahlreicher Experten werden wir die Fachkräftelücke ohne Zuwanderung nicht schließen. Daher muss es das politische Ziel sein, Einwanderer und Geflüchtete so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt zu bringen – das ist übrigens auch ein sehr gutes Instrument für Integration. Dänemark gibt Einwanderern dafür drei Jahre Zeit und Unterstützung – nicht mehr. Ein gutes Vorbild.

Der Ingenieur ist nicht mehr wert als der Handwerker

Berufsorientierung fängt in den Elternhäusern an – sollte sie zumindest. Dabei dürfen vermeintliche Sicherheit und soziales Prestige nicht im Vordergrund stehen, sondern das Talent des Kindes. Wir müssen weg von der Denke, dass nur Akademiker etwas zählen. Der beste Zahnarzt und der genialste Ingenieur können nicht erfolgreich sein, wenn ihnen nicht zuvor ein Handwerker Elektroleitungen und Fliesen gelegt hat.

Eng gekoppelt an die Prägung im Elternhaus ist die innere Haltung junger Menschen – nennen wir es Leistungs- und Veränderungsbereitschaft. Dazu zwei Beobachtungen: Im September vergangenen Jahres standen 4640 offene Lehrstellen 2380 unversorgte Bewerber gegenüber. Das passt nicht.

Die Macht der „Helikoptereltern“

Der zweite Aspekt lässt sich unter die Überschrift „Helikoptereltern“ stellen. Aus Übervorsicht der Mütter und Väter fehlt es vielen Kindern und Jugendlichen an Eigenständigkeit und Widerstandskraft gegenüber schwierigen Momenten und Krisen, wie sie im Leben nun mal auftauchen. Stattdessen haben sie ein konsumistisches Verhalten entwickelt mit dem Anspruch, dass es andere schon richten werden. Wer auch immer das dann ist. Das gilt besonders für eine Generation, die bis Corona nur Aufschwung kannte und Wohlstand als eine Art Naturkonstante erlebt hat. Das ist er aber nicht, sondern muss immer wieder erarbeitet werden.