„2022 hat unser schwarz-rot-goldener Feiertag viel mit Blau-Gelb zu tun.“

Revolution, Pogrom, Grenzöffnung… An sich hätte ich es interessanter gefunden, den historisch geradezu traumatisch codierten 9. November als Datum für den nationalen Feier- oder auch Besinnungstag zu küren. Aber geschenkt!

Derzeit ist eh Pragmatismus angesagt. Immerhin fällt der 9. November in diesem Jahr auf einen unpraktischen Mittwoch, wohingegen der 3. Oktober als Montag den Deutschen ein schönes langes Wochenende verheißt.

Außerdem, das gebe ich zu, ist ein ungetrübter Gedenktag schon was Feines. Ein gewisser Wolfgang Schäuble, der vor Tagen in Helmstedt sagte, er fahre nach wie vor niemals von Berlin nach Niedersachsen, ohne Freude und Dankbarkeit über die Friedlichkeit des Mauerfalls zu empfinden, steht damit nicht allein da. Kurz nach Michail Gorbatschows Tod sei der plumpe Reim gestattet: Gorbi, Gorbi – das vergessen wir nie!

Klar, dass deshalb nun besonders viele Deutsche den Tag nutzen, um über den Stand der Einheit nachzudenken, glaubt bestimmt nicht einmal der Ostdeutschland-Beauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider. Dessen – zum Glück: nicht nur dessen – Bestrebungen für mehr Wachstum in Ostdeutschland, für mehr ostdeutsche Chefinnen und Chefs haben Rückenwind verdient. Die Chemnitzer Band Kraftklub bringt es in ihrem Lied „Wittenberg ist nicht Paris“ so auf den Punkt: „Es ist nicht alles schlecht, aber viel mehr als woanders“ – und gibt bei der Gelegenheit auch dies noch zu bedenken: „,Nazis raus‘ ruft es sich leichter, wo es keine Nazis gibt.“

Übrigens spielt der Ost-West-Faktor auch eine Rolle, wenn es um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und dessen direkte und indirekte Folgen geht. Anfang September ergab eine Forsa-Umfrage, dass im Westen zwei Drittel die Sanktionen gegen Russland befürworteten, im Osten aber nur 42 Prozent. Außerdem stimmten zwei Drittel der Ostdeutschen der Ansicht zu, die Gaspipeline „Nord Stream 2“ solle endlich genutzt werden – was im Westen nur 35 Prozent so sahen.

Und siehe da, schon sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) den Satz „Wir müssen mit ganzer Kraft versuchen, diesen Konflikt zu einem Ende zu bringen, um dann wieder in wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland zu kommen“ – und gab nach der Zwischenbemerkung des Interviewers – „Ihrer Position kann Sahra Wagenknecht vermutlich mehr abgewinnen als Friedrich Merz“ – auch gleich zu, sein Parteichef und er hätten „bei diesem Krieg“ nun mal „eine unterschiedliche Einschätzung“.

Diese Volte mag der Furcht vor einer Welle des Unmuts über steigende Preise geschuldet sein. Auch stimmt es ja, dass über Inflation, gefährdete Jobs und schließende Geschäfte desto entspannter geredet werden kann, je weniger man selbst existenziell bedroht ist. Dennoch scheint mir der Preis, der durch neutralisierendes Gerede über diesen barbarischen Krieg und kategorische Priorisierung eigener wirtschaftlicher Interessen fällig werden könnte, unvertretbar hoch zu sein.

Sicher, derlei ist leichter geschrieben als dauerhaft beherzigt. Sehr viele Menschen haben ukrainischen Flüchtlingen fantastisch geholfen. Aber ebenfalls viele sind des Themas überdrüssig, ärgern sich über die Verdrängung anderer Themen, möchten neutral sein oder können sich aus Sorge vor einer atomaren Eskalation, aus pauschalem Pazifismus oder latentem Antiamerikanismus nicht zu einer klaren Haltung durchringen. Seit ich bei einem Gottesdienst Ende Mai (!) erlebt habe, wie ein Braunschweiger Pfarrer im Verlauf der mehr als einstündigen Veranstaltung mit keinem Wort auf den Krieg einging, wundere ich mich kaum noch über Scheuklappen aller Art.

Doch es hilft nichts: Kühle Wirtschaftspolitik muss die Folgen des Dramas hierzulande abmildern. Vor allem aber darf das russische Projekt der Unterjochung und Einverleibung eines Landes, das seit Jahren in zunehmender Einmütigkeit und seit Monaten sogar in heldenhafter Verbissenheit genau das zu verhindern trachtet, auf keinen Fall gelingen. Die „Anti-Putin-Koalition“ muss halten. Es geht nicht nur um die Ukraine, um Georgien und andere Wer-käme-als-nächstes-dran-Länder. Sondern auch um uns. „Wir müssen uns in der Ukraine verteidigen“, auch das hat Wolfgang Schäuble in Helmstedt gesagt.

Bezogen hat er das auf Demokratie, Freiheit, Individualismus, auf das also, was man selbst am „Tag der Deutschen Einheit“ als „westliche Werte“ bezeichnen darf. 2022 hat unser schwarz-rot-goldener Feiertag viel mit Blau-Gelb zu tun.

Auf NDR-Info ist dieser Kommentar auch zu hören – am 3. Oktober gegen 9.20 Uhr.