„Und auch Deutschland sollte sich nicht ständig darauf verlassen, nur mit Geld Versäumnisse der Vergangenheit ausgleichen zu wollen.“

Es gab Zeiten, da saß ein Mann in seiner Stammkneipe, hielt sich an Tresen und Bier fest und philosophierte über Gott und die Welt, über das Allgemeine und das Besondere. Ein Ritual, das sich fast täglich wiederholte. Dann, meistens im Zusammenhang mit großem Erstaunen oder spontaner Verärgerung, entfuhr dem Mann immer wieder ein Satz, der seine Tresennachbarn aufschrecken ließ. „Hermann Löns, die Heide brennt!“, rief er durch den Raum und wiederholte den Ausruf in derselben Lautstärke, um die Angemessenheit seiner Erregung zu unterstreichen.

Und heute? Was würde er sagen, angesichts der Tatsache, dass nicht mehr nur die Heide, sondern auch der Harz brennt? Ich würde ihn gerne fragen. Bedauerlicherweise haben sowohl diese kultige Braunschweiger Eckkneipe als auch der hier zitierte Gast das Zeitliche gesegnet. „Hermann, Hermann, Hermann… die Zeiten werden extremer.“ Vermutlich so oder so ähnlich würde er es wohl formulieren.

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Vom „kleinen“ Kneipenphilosophen zur „großen“ Politik. Auch die trieb es in dieser Woche wie ein Magnet ins Umfeld des höchsten Berges Norddeutschlands, dem Brocken, an dessen Hang es brannte. Es herrschte reger Politiktourismus, so der Eindruck. Wäre es bösartig zu unterstellen, die Umtriebigkeit des ein oder anderen liege auch in anstehenden Landtagswahlen begründet? Vermutlich. In dieser Ausschließlichkeit: ganz bestimmt. So ganz aus dem Blick sollte aber nicht geraten, dass der Wahlkampfmotor in Niedersachsen mittlerweile richtig auf Touren gekommen ist.

Dass Niedersachsens Innenminister Pistorius und Umweltminister Lies (beide SPD) ihre Besuche in der Region Harz und Braunschweig nicht nur zu Solidaritätsbekundungen für die Helfer nutzten, sondern auch die Debatte über den richtigen Umgang mit Brandkatastrophen forcierten, war richtig, weil nötig. Gleichzeitig bleibt der Beigeschmack, dass die aktuellen Appelle der Dringlichkeit nur mit der politischen Vergesslichkeit der Vergangenheit zu erklären sind.

Wenn Pistorius fordert, Deutschland müsse über den Bund, Löschflugzeuge, wie es sie in Italien allein 19. Mal gibt, anschaffen, drängt sich unvermeidbar die Frage auf, warum er, also Pistorius, als einer der prägenden Köpfe deutscher Innenpolitik diesen Vorstoß nicht schon längst unternommen hat. Schließlich ist er seit 2013 im Amt. Erschwerend kommt hinzu, dass Experten auf dem Gebiet der Waldbrandbekämpfung dem niedersächsischen Amt für Brand- und Katastrophenschutz seit Längerem vorhalten, knauserig zu sein und zögerlich zu handeln, wenn es um Prävention und die Früherkennung von Brandlagen geht. Der Feuerwehr-Flugdienst des Landesfeuerwehrverbandes äußerte sich schon dahingehend im Juli, angesichts eines landesweit sehr hohen Waldbrandgefahrenindexes, gegenüber unserer Zeitung. Man werde das Gefühl nicht los, dass das Amt aus Kostengründen „die Flieger nicht so gern am Himmel“ sehe, hieß es damals. Ein bedenklicher Satz, war er doch an Pistorius und dessen Ministerium adressiert. Übrigens: Die Kosten für eine Stunde Luftüberwachung sollen bei 390 Euro liegen.

Heute, angesichts des zweiten Brandes am Brocken innerhalb weniger Wochen, ist der Eindruck ein anderer. Mit tatkräftiger politischer Hilfe kann es jetzt nicht schnell genug gehen. So kündigte Pistorius in dieser Woche an, die Mittel für Einsatz-Fahrzeuge aufstocken zu wollen, die nicht nur bei Waldbränden, sondern auch bei Hochwasserlagen benötigt würden. Alles Zufall? Alles Wahlkampf? Zu hoffen ist, dass beides nicht zutrifft, und Ankündigungen in Maßnahmen münden.

Leben in der „radikalen“ Zone

Nicht erst die Brände im Harz – im Juli hatte das Große Moor im Kreis Gifhorn, im August der munitionsversuchte Grunewald gebrannt – sondern auch die extreme Trockenheit seit März, haben eindrucksvoll vor Augen geführt, dass Deutschland sich nicht mehr auf seine geografische Lage verlassen kann. Katastrophen wie die am Brocken passieren, weil sich die „gemäßigte Zone“ klimapolitisch längt radikalisiert hat. So sollten wir künftig die Extreme als Regel und nicht als Ausnahme in Betracht ziehen, die Politik ihr Handeln danach ausrichten.

Interessierten uns die Waldbrände vor Jahren in Südeuropa – an der Algarve oder der Ägäis – höchstens dann, wenn geplante Urlaubsreisen drohten, dieser Naturgewalt zum Opfer zu fallen, zeigt der Harzbrand unmittelbar die Folgen veränderter klimatischer Prozesse auch in unserer Region. Dabei sollte bei aller Erschütterung nicht unerwähnt bleiben, dass andere Länder viel schwerer unter Bränden leiden als Deutschland. Wird die vom Feuer zerstörte Fläche am Brocken auf rund 160 Hektar beziffert, wurden in Portugal laut Europäischem Waldbrand-Informationssystem im Jahr 2022 schon fast 80.000 Hektar Wald durch Feuer zerstört. Spitze in Europa ist das nicht. Rumänien verlor im selben Zeitraum etwa 150.000 Hektar Wald.

Deutschland neigt in diesen Situationen manchmal zu sehr kleinteiligen und gleichzeitig sehr anstrengenden Debatten. Die über das Totholz ist so eine, weil sie kaum zielführend sein kann, wenn immer nur Maximalforderungen gegeneinander in Stellung gebracht werden. Es wäre wichtig, Experten wie Dennis Stegmann vom Waldbrandteam in Vechelde zu hören. Ein Feuerwehrmann, der seinen Ausführungen voranstellt, dass Naturschutz sehr wichtig sei und immer wichtiger werde. Das morsche Geäst sei aber bei der Brandbekämpfung ein Problem, „entweder stolpert man selbst darüber oder Räumgerät gelangt nur schwer an den Brandherd“. Wie Stegmann, beide Seiten sehend, sollten wir Lösungen suchen, die Natur- und Brandschutz nicht nur im Interessenskonflikt miteinander sehen. Ständig zu betonen, was nicht geht, wird uns nicht helfen.

Ob sich aus diesem Konflikt ein weiterer entspinnt, ist noch nicht entschieden. Klar ist aber: Wer heute darauf drängt, die Nationalparkverwaltung im Harz wieder aufzuteilen, handelt geschichtsvergessen und hält es vermutlich für politisch zielführend, Vorurteile zwischen Ost und West zu pflegen. Eine stringente Umwelt-, Klima- und Forstpolitik macht nur harzübergreifend Sinn. Denn genauso, wie sich das Corona-Virus nicht für Grenzen zwischen Bundesländern interessiert, nimmt der Borkenkäfer bei seiner Ausbreitung keine Rücksicht auf behördliche Zuständig- und Empfindlichkeiten, ein Waldbrand übrigens auch nicht.

Und auch Deutschland sollte sich nicht ständig darauf verlassen, nur mit Geld Versäumnisse der Vergangenheit ausgleichen zu wollen. Gelebte Solidarität im Sinne einer gemeinsamen europäischen Brandbekämpfung heißt auch, Löschflugzeuge zu besitzen, Personal zu schicken, sich in Lebensgefahr zu begeben, dort, wo es nötig ist. „Danke, Jungs“, „Danke Italien oder „Hab die Bengel zum Feierabend gesichtet, beeindruckend.“ Nur drei Kommentare von wohl hunderten, die zuletzt über soziale Netzwerke versendet wurden und die die Begeisterung unserer Region für Wagemut und Hilfsbereitschaft der italienischen Piloten dokumentieren.

Zurück zu Löns, dem Heidedichter. Nicht nur er war der Natur zugewandt. Auch Heinrich Heine liebte sie. Besonders den Harz. Zehntausende Touristen wandern jährlich auf Heines Spuren zum Brocken. „Unser Sommer ist nur ein grün angestrichener Winter“, lautet ein berühmtes Zitat von ihm. So hat alles seine Zeit, auch dieser Satz.