„Dabei verspüren wir im Alltag auf der Straße oft auch die Anstrengungen der Zeit. Corona, Krieg, Energiekrise… – wir sind dünnhäutiger geworden.“

Wende ist das Lieblingswort dieser Tage: Die steht ganz offensichtlich auf sämtlichen Politikfeldern in Deutschland an. Dafür tut jedoch Veränderung Not, mit schmerzhaften Einschnitten für den Einzelnen und dem Ende liebgewonnener gesellschaftlicher Gewohnheiten.

Ein Weiter-so sei keine Option, heißt es dann immer wieder von denen, die vorbehaltlos die Vollbremsung auf vermeintlich ausgetretenen Pfaden fordern.

Die, die sich diesen Forderungen augenblicklich widersetzen, halten Reformen nicht für grundsätzlich falsch. Sie begründen ihre Haltung aber wie folgt: Wer Entwicklungen nur vom aktuellen Standpunkt aus betrachtet, vergesse, so die Argumentation, dass sich Zeiten ändern und Einstellungen zu Themen auch. Wiederum andere sind überzeugt, dass das Bewahrende in der Politik grundsätzlich der schlechtere politische Ansatz ist und sie lehnen Veränderungen nur um der Veränderung willen ab.

Wissing in Goslar: Vom Verkehr- zum „Radminister“

In solchen Widersprüchen leben wir in diesen Tagen ständig. In der Energie-, in der Außen-, Klima- oder aber auch Verkehrspolitik. Auf letztgenanntem Feld haben sich besonders viele ideologische Fronten gebildet, die dementsprechend ein Aussitzen in der Sache gefördert und den Reformbedarf erhöht haben. So weisen ständige Teilnehmer des Verkehrsgerichtstags in Goslar gerne auf die Empfehlungen des Kongresses hin – und ergänzen ebenso oft, wie wirkungslos diese beim Gesetzgeber verpufften.

Der Streit, ob Deutschland nicht endlich auch ein Tempolimit auf Autobahnen braucht, wie es alle anderen europäischen Länder schon besitzen, ist wohl das prominenteste Beispiel. Nach jahrelanger Blockade in einem von der CSU geführten Ministerium ist mit einem FDP-Mann an der Spitze des Hauses allerdings die Wahrscheinlichkeit der Einführung einer solchen generellen Geschwindigkeitsbeschränkung nicht größer geworden.

Dass Verkehrsminister Volker Wissing bei seinem Auftritt in der Kaiserstadt diese Diskussion vor Fachpublikum nicht führen wollte, war absehbar. Stattdessen wurde der Verkehrsminister in Goslar zum „Radminister“ und erfreute diejenigen, die seit Jahren fordern, diesem klimafreundlichen Fortbewegungsmittel mehr Bedeutung zuzusprechen.

Dass ihm dabei insbesondere der Bau von mehr Fahrrad-Parkhäusern in den Sinn kommt, zeigt allerdings auch eine gewisse Form der Prioritätensetzung.

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Fehlt es uns an Solidarität im Straßenverkehr?

Den Abschluss des Kongresses bot dann eine Diskussion um sogenannte „Klebeaktionen“ von Klimaschützern auf deutschen Straßen. Sie ist die neueste und radikalste Form des Protests gegen eine vermeintlich falsche Verkehrs- und Klimapolitik. So öffentlichkeitswirksam die Aktionen auch sein mögen, zielführend sind sie nicht, denn sie verhärten Fronten und erschweren Verständigung,

Dabei stellen sich die Fragen nach der Verhältnismäßigkeit und den Mitteln des Protests deutlich, auch unter Teilnehmern der Tagung. „Würde die Grüne Jugend solche Aktionen auch dann verteidigen, wenn sich nicht Klimaaktivisten, sondern Impfgegner oder Rechtsextremisten am Asphalt festkleben würden?“, fragt beispielsweise Unfallforscher Siegfried Brockmann. In ähnlicher Weise argumentiert auch Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza – bei allem Verständnis für die Sache Klimaschutz, wie die CDU-Politikerin betont. Wer Grenzen beim Protest bewusst überschreitet, andere mit seinem Handeln einschränkt oder gar verletzt, disqualifiziert sich auch für den dringend notwendigen Dialog. Schlimmer noch: Er oder sie tut auch alles dafür, dass dieser erst gar nicht begonnen wird. Dabei ist Verständigung das A und O in einer Gesellschaft, die Mobilität als demokratisches Grundrecht versteht, genauso wie Freiheit.

Dabei verspüren wir im Alltag auf der Straße oft auch die Anstrengungen der Zeit. Corona, Krieg, Energiekrise… Wir sind dünnhäutiger geworden – während die Mobilität wächst und die Akteure im Straßenverkehr diverser werden. Eine gefährliche Konstellation.

Hat unsere zunehmende Aggressivität hinterm Steuer, aber auch auf dem Fahrradsattel, strukturelle Gründe? Ist unser Verhalten Ausdruck einer immer mehr ich-fixierter Gesellschaft? Ist der Zeitgeist also schuld? Vermutlich haben wir uns schon sehr lange daran gewöhnt, nicht miteinander, sondern in Abgrenzung gegenüber „den anderen“ Verkehrsteilnehmern ans Ziel zu kommen. Im Zusammenspiel mit einer Infrastruktur, die an ihre Grenzen stößt, ist das sogar eine fatale Entwicklung.

Überrascht ist man ja schon ab und zu, wenn sich jemand für Rücksichtnahme erkenntlich zeigt. Wenn man in eine Parklücke ausweicht, um den anderen Autofahrer auf einer viel zu engen Seitenstraße in seinem Viertel durchzulassen – ganz ohne Gegenleistung. Oder wenn das rücksichtsvolle Zur-Seite-Treten eines Fußgängers den Dank des vorbeieilenden Radfahrers zur Folge hat. Wann passieren diese kleinen Gesten der Solidarität in der Hektik des Alltags, der geprägt ist von beruflichen Terminen und privaten Verpflichtungen? Immer seltener, so zumindest mein Gefühl.

Die Schizophrenie des Alltags

Hinzu kommt der Mensch, der mit dem Wechsel des Fortbewegungsmittels auch seine Einstellungen ändert. Kennen Sie das womöglich von sich selbst? Dieser Schalter, der dann umkippt? Dass man sich morgens auf dem Weg zur Arbeit auf dem Rad über unachtsam rechtsabbiegende Autofahrer aufregt und nachmittags am Steuer genau diese Gedankenlosigkeit dem Radfahrer unterstellt – nicht höflich, sondern in der Anspannung, endlich weiterkommen zu müssen, brüllend und grimassierend.

Wer in Deutschland das Autofahren erlernt, verinnerlicht schon sehr früh das Prinzip des Misstrauens. Wer hat den Satz „Im Straßenverkehr ist stets mit der Dummheit des anderen zu rechnen“ noch nicht gehört? Vielleicht hat dieser viele Unfälle verhindert. Gut so. Aber er zeugt nicht von Vertrauen in den Nebenmann oder die Nebenfrau.

Vielleicht ist es am Ende unser eigenes Verhalten, das Reformen ausbremst und es der Politik sehr schwer macht, den Verkehr so zu regeln, dass er allen Interessen einigermaßen gerecht wird. Denken wir bitte auch darüber mal nach!